Das Land steckt in der Krise und mit ihm die Diskussionskultur. Themen wie Krieg und Pandemie, Migration und Rechtsextremismus polarisieren die politische Öffentlichkeit. In ihrem Buch „Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen“ suchen Julia Reuschenbach, Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin und Korbinian Frenzel, Journalist und Redaktionsleiter Prime Time bei Deutschlandfunk Kultur, nach Auswegen aus der diskursiven Sackgasse.
Als Sparringspartner zur Diskussion ihrer Thesen hatten sich die beiden Autoren zwei Politikprofis ins Berliner Publix eingeladen: Richarda Lang, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen und bis November 2024 Ko-Vorsitzende der Partei sowie Wolfgang Schmidt, bis zum Regierungswechsel Kanzleramtsminister unter Olaf Scholz
Ausgangspunkt der Diskussion war die Frage von Moderatorin Maria Exner nach jüngeren Beispielen für besonders „defekte“ Debatten. Eindeutig das Gezerre um die Migrationspolitik, urteilte Frenzel. Das Ganze unter immer neuen Reizwörtern wie der „Bezahlkarte“ oder aktuell der Zurückweisung an den Grenzen. Defekt sei diese Debatte deshalb, weil sie offenbar nur geführt werde, um auf Kosten des Gegners politische Geländegewinne zu erzielen, ohne Aussicht auf eine Lösung. Für Schmidt war die Auseinandersetzung um Staatsverschuldung und Staatsfinanzen eine solche Debatte, „auch weil ich finde, dass da nicht nur die Wahrheit gesagt wurde vor der Wahl“.
Reuschenbach enerviert speziell die Debatte um das Bürgergeld. Ein Streit, der aktuell mit Bemerkungen von Arbeitsministerin Bärbel Bas zu angeblich „mafiösen Strukturen“ und organisiertem Sozialbetrug „einen neuen Tiefpunkt erreicht“ habe. Durch gezieltes Agenda-Setting sei es gelungen, die sehr komplexe Debatte über 5,2 Millionen Bürgergeld-Empfänger*innen entlang der Gruppe von 16.000 so genannten „Totalverweigerern“ zu führen. Selbst der neue Koalitionsvertrag lese sich an dieser Stelle als ein „Draufschlagen auf diese Menschen, die angeblich den Staat ausnehmen“.
Verkürzte Debatten
Ihr Befund: Der Politik gelinge es immer weniger, die Komplexität zentraler gesellschaftlicher Probleme in die öffentlichen Debatten zu übertragen. Es werde oft auf unredliche Weise verkürzt und vereinfacht, egal ob es sich um Themen wie Staatverschuldung, Wärmewende oder Migration handle. Dazu geselle sich das Phänomen einer zunehmenden „affektiven Polarisierung“ bzw. eines Feindbilddenkens. Ein Phänomen, das nicht nur die politische Mitte mit den „politischen Rändern“ konfrontiere, sondern – wie die Ampel-Regierung anschaulich belegt habe – auch innerhalb der Mitte-Parteien um sich greife. In Kombination mit einer immer mehr individualisierten Gesellschaft werde ein politischer Konsens so von Mal zu Mal schwieriger. Am Ende brauche es dann keine extremistischen Akteure, die „irgendwelche Triggerpoints“ setzten. Die gut 150 AfD-Abgeordneten könnten sich wie im Kino genüsslich zurücklehnen und zusehen, wie sich „die nervöse, angestrengte politische Mitte“ selbst zerfleische.
Wie steht es um die Diskussionskultur im Lande? Wie groß ist der Grad der Meinungsfreiheit? Frenzel zitierte eine Allensbach-Umfrage, nach der der Anteil der Befragten, die sich gelegentlich nicht mehr „trauen“, ihre Meinung frei zu äußern, von einst über 80 Prozent auf um die 45 Prozent gesunken sei. Einer der Gründe liege in den Wirkungsmechanismen von Social Media. Die fördere einerseits eine „Bekenntniskultur“, könne aber Akteure auch kollektiven Shitstorms ausliefern. Die Vergangenheit erscheine im Rückblick wohl vor allem harmonischer, weil das „Spiel“ damals übersichtlicher war. Mittlerweile gebe es eine Vielzahl von Playern, die die Spielregeln von einst nicht mehr akzeptierten. Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte forderten ihre Rechte ein. Daneben gebe es allerdings auch die „Blutgrätschen-Fraktion“, die die bisherigen Spielregeln komplett sabotierten: Populistische Kräfte wie die AfD, die keinerlei Interesse an Lösungen zeigten. Wo diese destruktive Praxis bei Wahlen zu Erfolgen führe, wachse die Neigung anderer Wettbewerber, solche Methoden zu kopieren.
Gefährliche Tendenzen in den Medien
Ricarda Lang ging mit der für sie vielfach fragwürdigen Rolle der Medien ins Gericht. Sie registriere paradoxerweise immer wieder eine gleichzeitige Verächtlichmachung von politischem Streit und politischem Konsens. Oft sei in den Medien, etwa in der abendlichen TV-Talkrunde, die Unfähigkeit der Politiker*innen, sich zu einigen, gegeißelt worden. Umgekehrt werde gelegentlich ein mühsam ausgehandelter Kompromiss als „Verrat“ an den Positionen ihrer Partei ausgelegt. Für sie eine gefährliche Tendenz, „weil Streit ja das Schmiermittel der Demokratie ist“. Viele Bürger*innen bekämen den Eindruck, es gehe bei allen Konflikten schlicht um Gewinnen oder Verlieren. Auch sie selbst habe dies innerparteilich erlebt, nach dem Motto: „Wenn wir jetzt in dieser Frage etwas nachgeben, ist das dann ein Gewinn für den Olaf, für den Christian oder für Robert?“
Auch die Medien, so kritisierte Lang, folgten häufig dieser Logik, ganz im Sinne einer fragwürdigen Aufmerksamkeitsökonomie: Wo sich keine Kontroverse unter den Parteien abzeichne, sinke das Interesse an Berichterstattung. Ein Vorstoß der Bündnisgrünen beim Tariftreuegesetz sei beispielsweise erst aufgegriffen worden, nachdem die FDP Ablehnung signalisiert habe.
„Erfolgreich gescheitert“ lautete die Benotung in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung über die Leistungen von drei Jahren Ampel-Regierung. Geplatzt sei die Regierung allerdings nicht an „defekten Debatten“, sondern am Geld, bilanzierte Wolfgang Schmidt. Und an den teilweise ganz unterschiedlichen Antworten, die drei ideologisch disparate Koalitionsparteien auf Fragen wie die Rolle des Sozialstaats, Umgang mit Staatsverschuldung, Steuergerechtigkeit, Krieg und Frieden, etc. hatten.
Getrieben von Social Media
Im Zeitalter von Social Media und Online-Medien seien Politiker Getriebene: „alle zwei Stunden eine neue Überschrift und ein unmittelbares Feedback – was klickt?“ Unter diesen Umständen habe die Ampel „das Gesetzemachen live und in Farbe und in 4K gestreamt“. Sie habe trotz Ukraine-Krieg und einer Million zusätzlicher Geflüchteter große Teile des Koalitionsvertrags abgearbeitet – dennoch verfolge sie das Image einer „totalen Losertruppe“. Aufgrund der von der Ampel getroffenen Maßnahmen existiere auch kein ernsthaftes Migrationsproblem mehr – man werde 2025 unter 100.000 Neuankömmlingen bleiben. „Das ist jetzt natürlich alles das Verdienst von Herrn Dobrindt, der persönlich die Flüchtlinge an der Grenze aufhält“, so das sarkastische Resümee Schmidts.
Etwas zu kurz kamen bei all der Krisenbeschreibung und Problemdiagnose die von den Autoren in ihrer Publikation unterbreiteten Lösungsansätze. Dazu gehören unter anderem ein Verbot von Wahlumfragen während der Wahlkampfphase, ein Schulfach „Demokratie, Medien und Information“, ein wöchentlicher „Tag der guten Nachricht“, der Ausbau partizipativer Formate im Rundfunk, eine Abschaffung der „Like“-Funktion in sozialen Medien und ein „Perspektivwechsel-Programm“, bei dem alle Bürger*innen einige Male eine Zeit lang Einblicke in das Berufsleben anderer erhalten, zwecks besserem Verständnis anderer Lebenswelten.
Korbinian Frenzel beklagte eine verpasste Chance. Was wäre gewesen, wenn 2022, als Twitter zum Verkauf stand, die großen öffentlich-rechtlichen Medien wie ARD, ZDF, Deutschlandradio, BBC, NPR, Radio France sich zusammengetan und das Portal gekauft hätten? „Schließlich brauchen wir für unsere demokratischen Öffentlichkeiten ein Netzwerk, bei dem wir über Regeln steuern können, dass es deeskaliert, ein Debattennetzwerk, das uns nach vorn bringt.“
Für unkonventionelle Lösungen
Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach machte es eine Nummer kleiner und plädierte für mehr Mut auf der Suche nach unkonventionellen Lösungen. Auch der Supermarkt oder die letzte Dorfkneipe könnten taugliche Orte sein, an denen Menschen zusammenkommen und das „gesellschaftliche Gespräch“ führen. Ausgerechnet die Konrad-Adenauer-Stiftung, berichtete sie, sei auf die „geile Idee“ verfallen, unter dem Namen „Dorfliebe“ in strukturschwachen Gebieten Stammtische mit gesponsertem Bier und Schnitzel zu organisieren. Und en passant mit den Bürger*innen das lokale Geschehen – von Umgehungsstraßen und Verkehrslärm bis zum Solardach auf der Kindertagesstätte – zu bereden. Argumentative Ausflüge auch in die „große Politik“ nicht ausgeschlossen. Auf diese Weise, so ihre Empfehlung, ließen sich Nachrichtenwüsten zumindest gelegentlich in kleine Oasen verwandeln.