Corona-Debatte in einer Schieflage

Ulrich Hottelet ist freier Journalist.
Foto: privat

Die Medien berichten häufig über die Proteste von Corona-Leugnern, Verschwörungstheoretikern und Rechtsradikalen gegen die Gesundheitsschutzregeln, aber nur wenig über die Haltung einer weit größeren Zahl von Menschen, die sich noch schärfere Corona-Maßnahmen wünschen. Ein Missverhältnis, das die Debatte verzerrt und Meinungen ausblendet.

Aktuell führt Corona wieder die Liste der wichtigsten Probleme in Deutschland an, besagt eine Umfrage des ZDF-Politikbarometers. Zugegeben, die Berichterstattung darüber muss viele Herausforderungen gleichzeitig meistern: seriös über ein komplexes weltweites Pandemiegeschehen informieren, dabei eine angemessene Gewichtung in den Nachrichten gegenüber Nicht-Corona-Themen vornehmen, die vielfältigen Aspekte der Pandemie (Gesundheit, Wirtschaft, Politik, Psychologie etc.) behandeln, die gesellschaftliche Debatte beleuchten und mitgestalten usw.. Doch in der Berichterstattung über die oft heftig geführte Diskussion hat sich seit Monaten eine Schieflage entwickelt. Denn die Gegner der staatlichen Gesundheitsschutzregeln werden gerne überrepräsentiert, die Befürworter härterer Maßnahmen kommen dagegen kaum zu Wort.

Dabei finden laut der ZDF-Umfrage im Oktober 64 Prozent die Maßnahmen richtig, 12 Prozent bewerten sie als übertrieben und 23 Prozent halten sie für zu schwach. Dennoch findet die dritte Gruppe in der Berichterstattung kaum statt, allenfalls in kurzen Bürgerbefragungen am Straßenrand. Corona-Leugner und -Verharmloser, Verschwörungstheoretiker aller Schattierungen und Rechtsradikale dagegen bekommen in TV-Demoberichten breiten Raum, ihre abstrusen Thesen bekannt zu machen. Talkshows laden allzu gerne die Vertreter dieser Theorien ein, schließlich garantieren sie Kontroversen und sollen so für hohe Einschaltquoten sorgen. Eilfertig mahnen viele Politiker und Journalisten, man müsse solche Bedenken ernst nehmen und – wie bei den Protesten gegen die Flüchtlingspolitik – mit den „besorgten Bürgern“ den Dialog suchen. Deren Wissenschaftsimmunität wird so zum „Kommunikationsdefizit“ der Politik umgedeutet und damit verharmlost.

Nun mag man einwenden, dass es eben keine Demos von Menschen gibt, die sich schärfere Maßnahmen wünschen. Daher mangelt es an knackigen Pressebildern und O-Tönen von dieser Gruppe. Insbesondere Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen neigen weniger zu öffentlichkeitswirksamen Protestzügen. Daneben gibt es viele Bürger*innen, die sich oft genug über Maskenverweigerer ärgern. Sie sind zur Überzeugung gekommen, dass es Bußgelder und deren tatsächlichen Durchsetzung bedarf, um einen effektiven Gesundheitsschutz zu erreichen. Der Krawallfaktor dieser Anhänger eines schärferen Kurses liegt allerdings bei Null.

Das enthebt die Medien aber nicht ihrer Verantwortung, diese Leisen mehr zu Wort kommen zu lassen, zumal es laut der ZDF-Umfrage doppelt so viele sind wie die Gegner der Corona-Maßnahmen. Gerade gesundheitlich besonders Gefährdete haben ein Recht darauf, in den Medien Gehör zu finden. Ist es nicht absurd, dass diejenigen, die bei ihren Demos „Lügenpresse“ plärren und oft wutentbrannt in die Mikrofone der Berichterstatter schreien, von Journalisten eher befragt werden als Menschen, die sich verantwortungsbewusst und solidarisch verhalten?

Weitere aktuelle Beiträge

Gleichstellungsbeauftragte im ÖRR stärken

Das Bekenntnis zur Gleichstellung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zeigt sich unter anderem im Vorhandensein von Gleichstellungsbeauftragten. Grundlage ist die jeweils entsprechende gesetzliche Regelung der Bundesländer, in denen die Sender angesiedelt sind. Gleichstellungsbeauftragte sollen nach dem Bundesgleichstellungsgesetz (BGleiG), die Beschäftigten vor Benachteiligungen aufgrund ihres Geschlechtes zu schützen und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz durchzusetzen.
mehr »

Safer reporting: Schutzkodex auf der re:publica

Das gesellschaftliche Klima ist eines der ganz großen Themen auf der diesjährigen Digitalmesse re:publica in Berlin. Auch Journalist*innen sind zunehmend Hass und Bedrohungen ausgesetzt – bei der Recherche, auf Demos oder in sozialen Medien. Das gefährdet nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Pressefreiheit insgesamt.  Dagegen hilft der Schutzkodex.
mehr »

„Das Arbeitsklima ist extrem hart“

In der Nahaufnahme für das Jahr 2025 beschäftigt sich Reporter ohne Grenzen (RSF) unter anderem mit der deutschen Berichterstattung zum Gaza-Krieg nach dem Überfall der Hamas auf Israel. Von der Organisation befragte Journalist*innen sprechen über massiven Druck, Selbstzensur und erodierende journalistische Standards. Ein Interview mit Katharina Weiß, Referentin bei Reporter ohne Grenzen Deutschland.
mehr »

Weniger Demokratie wagen

Mit dem Slogan „Medienvielfalt stärken – Meinungsfreiheit sichern“ ist die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD angetreten.  Keine Koalitionsvereinbarung ohne Bekenntnis zur „flächendeckenden Versorgung mit journalistischen Angeboten“. Aber halt: Hieß es nicht bei der Ampel (und der letzten Merkel-Regierung!) noch „flächendeckende Versorgung mit periodischen Presseerzeugnissen“?
mehr »