Forschungslücke

Angebote sollten Austausch mit Gleichgesinnten ermöglichen

Dr. Thomas N. Friemel, Oberassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ) der Universität Zürich sprach mit M über Mediennutzer und die erforderliche Berücksichtigung ihrer Sozialstrukturen und Diskussionsbedürfnisse.


M |  In sozialen Netzwerken, wie Facebook oder Twitter, entstehen auf Basis von Mitteilungen ebenso kurzzeitige wie permanente Öffentlichkeiten, die in der Summe den Ausmaßen und Wirkungen von Massenmedien gleichzukommen scheinen. Wie reagiert die Wissenschaft darauf?

THOMAS FRIEMEL |
  In der Mediennutzungs- und -wirkungsforschung dominierte in den letzten 60 Jahren eine individualistische Perspektive. Das heißt, die Wissenschaft betrachtete die Rezipienten in der Regel nur als Individuum und nicht als Teil eines sozialen Netzwerks von Freunden, Verwandten und Bekannten. Obwohl bereits in den 40er Jahren deutliche Befunde zur Relevanz des sozialen Umfeldes vorlagen, blieb die empirische Forschung hierzu eher eine Randerscheinung. Dies erklärt sich unter anderem durch forschungspraktische Gründe: es ist sehr viel aufwändiger und komplexer, soziale Netzwerke zu untersuchen, als eine Zufallsstichprobe. Diese Forschungslücke offenbart sich durch das Aufkommen des Internets und die jüngsten Entwicklungen der Social Media Networks noch deutlicher als zuvor, neue Erklärungsansätze sind gefragt. Hier bietet sich die Methode der ‘Sozialen Netzwerkanalyse’ an. Sie entwickelte sich in den letzten 30 Jahren insbesondere in der Soziologie und hat das Potenzial für einen Paradigmenwechsel.

M | Einen Paradigmenwechsel für Wissenschaft und Forschung – oder für die Medienwirtschaft?

FRIEMEL |  Sowohl als auch. So könnten die Leserstatistiken eben nicht mehr nur Kennzahlen umfassen, welche die Individuen beschreiben, wie beispielsweise Alter, Geschlecht oder Einkommen. Vielmehr ließen sich auch Informationen zur Sozialstruktur erheben, etwa die Größe eines Netzwerks, seine Dichte, seine Homogenität beziehungsweise seine Heterogenität, seine geografische Ausdehnung, die in ihm stattfindenden Beziehungsarten und so weiter.

M | Was tritt bei derartigen Erhebungen an Erkenntnissen zu Tage?

FRIEMEL |  Untersuchungen von Freundschafts- und Gesprächsnetzwerken zeigen, dass die Mitglieder dieser Netzwerke sehr ähnliche Medieninhalte nutzen. Ein wesentlicher Befund der jüngsten Forschung hierzu ist, dass eine solch hohe Homogenität nicht allein durch Beeinflussungsprozesse entsteht – also Flüsterpropaganda oder Meinungsführerschaft Einzelner. Vielmehr scheint die klassische Vorstellung von Diffusion und Beeinflussung je nach Situation gar eine untergeordnete Rolle zu spielen. Den neueren, empirisch nachgewiesenen Erklärungen nach finden unter den Nutzern bei der Wahl von Gesprächspartnern gegenseitige Selektionsprozesse statt, ganz nach dem Motto „gleich und gleich gesellt sich gern“: Personen, welche die gleichen Medieninhalte nutzen, werden also eher zu Freunden.

M |  Übereinstimmung bei den Präferenzen für bestimmte Kultur- oder Medieninhalte trugen schon immer zu Gruppenbildung und Identitätsstiftung bei, ob auf Schulhöfen oder für Stammtischrunden. Was ist in den Online-Netzwerken anders?

FRIEMEL |  Zwar findet bei Onlineausgaben von Zeitungen und anderen Medienprodukten die soziale Einbettung der Rezipienten bereits statt. So gibt es fast überall die Funktionen, Artikel an andere Personen verschicken, Kommentare hinterlegen oder Bewertungen abgeben. Jüngeren Datums ist die Anbindung an soziale Netzwerkplattformen wie Facebook, die zeigen, welche Artikel von welchen Freunden positiv bewertet werden. Doch diese Funktionen bedienen alle nur die Diffusion durch Beeinflussung. Wesentlich seltener auf den Homepages der journalistischen Medien sind derzeit noch Angebote, die den Austausch mit Gleichgesinnten ermöglichen, wie beispielsweise offene Diskussionsforen. Dabei entspricht dies durchaus einem ernst zunehmenden Bedürfnis. Dafür spricht die Fülle an Fan- und Diskussions-Foren zu allen möglichen Medieninhalten, die auf meist selbst organisierten Plattformen stattfinden. Für die Medienproduzenten ist es eine vielversprechende Chance, wenn sie den Austausch von Gleichgesinnten auf den eigenen Plattformen ermöglichen.

 Die Fragen stellte Henry Steinhau 

Links

http://www.friemel.com/home.php
Jährliche Konferenz zu Sozialen Netzwerk Analysen: http://www.asna.ch/

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