Nachdenken

Wie Sprache in den Köpfen Wirklichkeiten entstehen lässt

Die kognitive Linguistin und Journalistin Elisabeth Wehling (27) ist in ihrem gerade erschienen Buch „Auf leisen Sohlen ins Gehirn“ (Carl-Auer-Verlag) am Beispiel der politischen Sprache in den USA den heimlichen Machthabern über unser „vermeintlich freies“ Denken auf der Spur. Im Gespräch mit M zieht sie Parallelen für den Journalismus in Deutschland.


M | Objektiver Journalismus ist unmöglich, behaupten Sie, Elisabeth Wehling. Sie verweisen dabei auf die kognitive Linguistik, eine Symbiose von Neuro- und Sprachwissenschaft, die in Deutschland relativ neu ist. Journalisten nehmen aber gemeinhin für sich in Anspruch, mit Sprache umgehen und Manipulationen durchschauen zu können.

ELISABETH WEHLING | Journalisten können nur dann Manipulation durch Sprache durchschauen, wenn sie wissen, wie Denken funktioniert. Aber der Journalismus – in Deutschland wie in den USA – hat den Anschluss an die kognitive Wissenschaft verloren. Erkenntnisse über das Gehirn spielen in der Berichterstattung noch immer keine Rolle. Müssten sie aber. Journalismus funktioniert über Sprache. Sprache wird im Gehirn verarbeitet. Fakten des menschlichen Denkens nicht zu berücksichtigen, ist eine Absage an den Informationsauftrag. Tatsächlich geschehen über 80 Prozent unserer Denkprozesse unbewusst. In Millisekunden bewertet unser Gehirn eine Situation, ein Wort. Das geschieht durch neuronale Schaltkreise, sogenannte Frames oder Deutungsrahmen. Unser Gehirn ignoriert Fakten, wenn es keinen passenden Deutungsrahmen gibt. Ein Beispiel: Ich erwähne vor Verwaltungsangestellten das politische Schlagwort Steuererleichterung. Die Beamten verstehen darunter die Vereinfachung von Steuerprozessen. Sie dagegen als Steuerzahler meinen, weniger Steuern zahlen zu müssen.

M | Da sitzen wir als Journalistinnen und Journalisten also in der Falle?

WEHLING | Es hindert uns niemand daran, uns ein Grundlagenwissen über Gehirnfunktionen anzueignen. Unser kognitiver Apparat funktioniert sehr komplex. Nur wissen Journalisten meist nicht, wie. Während meines Studiums an der Universität Hamburg waren Fakten über das menschliche Gehirn weder in der Germanistik noch der Soziologie oder Journalistik je Thema. Die Frage, wie politische Sprache in den Köpfen der Menschen Wirklichkeiten entstehen lässt, wird erstaunlicherweise nicht gestellt. In den USA wird das zumindest in Wissenschaftskreisen intensiv diskutiert.

M | Sprache verändert also unser Gehirn?

WEHLING | Ja, und diese Mechanismen sollten wir kennen. Nötig wäre deshalb, investigativen Journalismus auf die kognitiven Voraussetzungen auszuweiten. Wir denken beim Recherchieren zuvorderst an das Überprüfen von Fakten, Zusammenhängen und das Einholen verschiedener Meinungen. Journalisten konzentrieren sich auf äußere Dinge – vermeintliche Gegebenheiten. Doch Fakten durchlaufen unseren kognitiven Apparat und werden erst so zu „Gegebenheiten“. Unsere Unkenntnis eigener Deutungsrahmen verhindert oft, dass wir kritisch nachhaken. Wir meinen, unser Gegenüber verstanden zu haben. Verstanden haben wir aber nur, was unser Gehirn aus seinen Worten macht.

M | Die physische Beschaffenheit unserer Gehirne blockiert also kritisches Nachforschen? Eine tolle Entschuldigung für laxes Arbeiten.

WEHLING | Unsere Journalisten sind tendenziell kritischer als in den USA. Es gibt in Deutschland mehr Sensibilisierung für Sprache. Aber das passiert nur bis zu einer bestimmten Grenze. Wenn wir meinen, objektiv zu berichten, indem wir umfassend Fakten zusammentragen, uns subjektiver Kommentierung enthalten und die Bewertung – vermeintlich! – dem Leser überlassen, irren wir. Wir werden damit nicht objektiver, sondern nur genauer. Denn durch Wortwahl und Kontext werten wir. Immer. Anders können wir nicht denken. Gerade in der politischen Berichterstattung enthalten Begriffe – die von Journalisten übernommen werden – immer Wertungen. Manchmal wird das von Politikern bewusst genutzt, um die gewünschte Wirklichkeit in den Köpfen entstehen zu lassen.
Zwei Beispiele: Der 11. September 2001 wurde von der Bush-Administration zunächst – sprachlich – als Verbrechen gewertet. Stunden später führte man die Idee eines „Angriffs“ auf die US-amerikanische Nation und eines „Krieges gegen den Terror“ ein. Ideen, die sich durch Wiederholung in den Köpfen der geschockten US-Amerikaner verankerten. Man führte Krieg gegen den Terror, nicht „Krieg gegen den Irak“, was weitaus schwerer vermittelbar gewesen wäre. Oder nehmen Sie das positiv besetzte deutsche Wort Reformen. Ein Begriff wie Gesundheitsreform wird benutzt, um negative Entwicklungen in der Wahrnehmung zu schönen. Die Politik nennt es Reform, tatsächlich ist es Abbau.

M | Wie widerstehen wir der Manipulation?

WEHLING | Da die Politik keine Fakten unbewertet anbietet, sollten wir uns immer Zeit nehmen, um zu reflektieren, welche Denkmuster dahinter stehen. Wöchentlich könnte man sich einen Politikbegriff heraus greifen und sich mit ihm auseinander setzen: Was passiert im Kopf, wenn wir das hören? Wie fest sind Denkrahmen verankert, dass wir sie weitergeben, aber nicht filtern? Nennen wir es kognitive Selbstkritik als Grundlage kritischer Berichterstattung.

M | Der Zeit für gründliches Nachdenken steht der journalistische Alltag mit seiner Schnelligkeit und Vielseitigkeit gegenüber…

WEHLING | Das bedeutet, das Wahrnehmungsbild wird verzerrt, wenn man gleichzeitig schreiben, fotografieren, mit der Handkamera filmen und alles sofort verarbeiten muss. Nachhaken wird so unmöglich. Ein Selbstverständnis als Aufklärer oder kritischer Kontrolleur ist selten geworden. Auch die Einflüsse durch Werbung und Finanzierung, die Zwänge des „freien“ Marktes sorgen für Abflachung. Dennoch haben Journalisten immer noch einen Informations- und Bildungsauftrag, das müssen wir uns bewusst machen. Also bewusster statt objektiver Journalismus.

Gespräch: Bettina Erdmann

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