Offene Kritik führt hinter Gitter

Ankunft am Stuttgarter Flughafen: Mustafa Kuleli, Generalsekretär der türkischen Gewerkschaft TGS
Foto: Joachim E. Röttgers, GRAFFITI

Auftakt der Veranstaltungsreihe „Journalismus ist kein Verbrechen“ in Stuttgart

„Die Lage der Journalistinnen und Journalisten in der Türkei ist düster“, sagte Mustafa Kuleli, Generalsekretär der türkischen Journalistengewerkschaft TGS, am 4. Mai bei der Veranstaltung „Journalismus ist kein Verbrechen“ im Stuttgarter ver.di-Haus. Es ist die erste Station seiner Reise in fünf deutsche Städte auf Einladung der dju in ver.di.

Die Fakten: 150 Journalistinnen und Journalisten sind zurzeit in der Türkei inhaftiert. Fast 170 Zeitungen, Radiostationen, Fernsehsender und Nachrichtenagenturen wurden seit dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres entweder geschlossen oder von regierungsnahen Unternehmen übernommen. Mehr als 700 Presseausweise wurden annulliert. Etwa 2500 Medienschaffende verloren ihre Arbeit. Ein Drittel aller Journalistinnen und Journalisten ist arbeitslos.

Mustafa Kuleli, Generalsekretär der türkischen Gewerkschaft TGS (l.) und Attila Azrak, WDR / 2. Vorsitzender des Bundes türkischer Journalisten in Europa
Foto: Joachim E. Röttgers, GRAFFITI

„Nirgendwo auf der Welt sitzen mehr Journalistinnen und Journalisten im Gefängnis, nur weil sie ihre Arbeit getan haben“, berichtete Kuleli. Wer inhaftiert wird und warum, sei oft nicht ersichtlich. Vorgeworfen wird den Kolleginnen und Kollegen, sie seien Anhänger von Fetullah Gülen, sie machten Propaganda für die PKK, seien Anarchisten oder linksradikal; in allen Fällen nach Lesart der türkischen Regierung „Terroristen“.

Wie unter solchen Bedingungen überhaupt Journalist_innen ihrer Arbeit nachgehen können und auch wollen, schildert Mustafa Kuleli mit einer gehörigen Portion Galgenhumor: „Wer verhaftet wird oder nicht, das ist wie in der Lotterie. Wer gegen Erdogan schreibt, wird verhaftet. Aber nicht jeder, der im Gefängnis sitzt, hat gegen Erdogan geschrieben. Man braucht noch nicht mal zu schreiben. Es kann schon genügen, bei einer Taxifahrt Kritik zu üben, und schon setzt einen der Taxifahrer bei der Polizei ab. Auch wegen Mitteilungen in den sozialen Netzwerken gab es viele Verhaftungen.“ Dass viele Kolleginnen und Kollegen in der Türkei trotzdem weiter arbeiten, zeige, dass sie keine Angst davor haben, ins Gefängnis zu kommen. Sarkastisch erklärt Mustafa Kuleli: „Ein Journalist, der in der Türkei nicht im Gefängnis war, ist kein richtiger Journalist. Das ist wie eine Art Masterstudium.“

Mustafa Kuleli selber war noch nicht im Gefängnis, verlor aber im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten 2013 in Istanbul seinen Job. Wer als Journalist_in in der Türkei seinen Job verliere, dürfe auch nicht von der Gewerkschaft unterstützt werden. Das sei gesetzlich verboten. Mit der Kündigung ende gewissermaßen die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft, so Kuleli. Was bleibe, seien begrenzte Möglichkeiten, den Betroffenen über Hilfsfonds, wie sie beispielsweise die Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützt, gelegentlich Honorar zukommen zu lassen.

„In Sachen Pressefreiheit spielt die Türkei zurzeit in einer Liga mit China. Als Folge davon nimmt Selbstzensur zu. Es gibt Themen, die werden nicht angegangen. Die Kollegen wissen, darüber kann ich schreiben, aber darüber nicht“, so der Gewerkschafter.

Mustafa Kuleli, Generalsekretär der türkischen Gewerkschaft TGS (Mitte), mit ver.di-Sekretär Siegfried Heim (l.) und Attila Azrak, WDR / 2. Vorsitzender des Bundes türkischer Journalisten in Europa, in Stuttgart
Foto: Joachim E. Röttgers, GRAFFITI

Attila Azrak (freiberuflicher Journalist und Moderator beim WDR, 2. Vorsitzender des Bundes türkischer Journalisten in Europa ATGB) assistierte Mustafa Kuleli als Übersetzer und als Insider. Seiner Meinung nach waren die Inhaftierungen und der Druck auf die Journalisten – selbst nach den vorangegangenen Militärputschen 1971 und 1980 – nicht so umfassend wie in den vergangen Monaten unter Erdogans Ausnahmezustand. „Heute ist der Druck subtiler“, sagt Attila Azrak. Trotzdem gebe es Opposition in der Türkei. Gesperrte Internetseiten würden über „Bypässe“ umgeleitet und so veröffentlicht. Wikipedia sei gesperrt, doch ein Link, veröffentlicht in sozialen Netzwerken, ermögliche es, an Wikipedia zu kommen. Das französische Unternehmen Eutelsat habe den kurdischsprachigen Sender Mednuce TV vom SAT-Sendeprogramm ausgesperrt. Aber es gebe trotzdem Wege, alternative Meldungen zu verbreiten, schildert Attila Azrak. Nur müsse man dabei vorsichtig zu Werke gehen. Leicht könne Unterstützung aus dem Ausland propagandistisch ins Gegenteil verkehrt werden.

Zur Eröffnung der Veranstaltung hatte Siegfried Heim, Fachbereichsleiter Medien, Kunst und Industrie in Baden-Württemberg betont: „Wir wollen uns von Mustafa Kuleli nicht nur die Situation schildern lassen, sondern auch über Wege sprechen, wie wir die Kolleginnen und Kollegen in der Türkei unterstützen und die Pressefreiheit stärken können.“ In Grußworten betonten Martin Gross (ver.di-Landesbezirksleiter), Joachim Kreibich (Reutlinger Generalanzeiger, Vorstandsmitglied der europäischen Journalistenföderation EJF) und Dagmar Lange (Landesvorsitzende des Deutschen Journalistenverband DJV) die Wichtigkeit international Solidarität zu zeigen, über die Grenzen von Organisationen weg, ohne politische und weltanschauliche Schranken.

Unterstützung ist hilfreich. Solidaritätsbekundungen ermutigen. Das wird in der Diskussion immer wieder betont. Doch Mustafa Kuleli regt auch an, hier in Deutschland den Druck auf die Politik zu verstärken. „Deutschland liefert Waffen. Merkel will den Flüchtlingsdeal. Frau Merkel hat uns billig verkauft“, sagte der türkische Gewerkschafter.


 

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