Es ist ein vergifteter Begriff, über den im medialen Kuppelzelt gerade so ausgiebig und aufgeregt diskutiert wird: Haltung! Vergiftet, weil von durchaus interessierter Seite boshaft missverstanden wird, dass Haltung eben kein Surrogat für Wahrhaftigkeit ist und auch kein militärischer Oberbefehl, dem sich alle journalistischen Tugenden unterzuordnen haben.
Die Diffamierung des Begriffs folgt dabei einem leicht durchschaubaren Kalkül: Journalistinnen und Journalisten mögen das Feld doch besser denen überlassen, die sich auf den digitalen Kanälen zu neuen Meinungsführern in eigener Sache erklärt haben und ihre schlecht kaschierte Propaganda möglichst störungsfrei unters Volk bringen wollen. Schon deshalb ist Trennschärfe ein Gebot der Stunde, um Journalismus von Propaganda, Berichterstattung von Kampagne zu unterscheiden.
Haltung setzt Wahrhaftigkeit voraus. Wer meint, Haltung erlaube es, fünfe gerade sein zu lassen, erhebt die Lüge zum journalistischen Prinzip. Nein, Haltung erlaubt nicht, Unerwünschtes wegzulassen oder Erwünschtes zu verklären. Es gibt kein Recht eines Journalisten zu lügen für einen höheren Wert. Wer dies nicht begreift, sollte das Wort Haltung nicht in den Mund nehmen. Wer allerdings meint, Haltung verbiete sich ganz grundsätzlich, weil Journalismus sich im wertungs- und damit wertefreien Raum zu bewegen habe, hat die Welt nicht verstanden, über die wir berichten.
Haltungsloser Journalismus ist eine Chimäre. Wer glaubt, Journalismus käme ohne Haltung aus, hat noch nie einen Skandal aufgedeckt. Woran messen wir politisches Versagen oder Fehlverhalten einer Regierung? An Maßstäben, die eben nicht voraussetzungslos sind, sondern an einen gemeinsamen Wertekanon appellieren, der nicht zuletzt in den Grundrechten unserer Verfassung, ihrem Rechtsstaats- und Demokratieverständnis umrissen wird. Wir halten die Vermögensverteilung in Deutschland für ungerecht oder Pflegeheime für menschenunwürdig. Deshalb berichten wir darüber, deshalb wählen wir solche Themen aus.
Haltung erfordert Transparenz. Ohne Transparenz wird Haltung zur Manipulation. Deshalb ist es wichtig, unseren Erkenntnisweg und unsere Recherchen nachvollziehbar zu machen. Unseren Auswahlkriterien liegen Wertungen zugrunde, unseren Erzählperspektiven, unseren Schlussfolgerungen – ob wir es wollen oder nicht. Diese müssen wir transparent machen, um glaubwürdig zu bleiben. Natürlich gehört dazu auch, persönliche Meinungen kenntlich zu machen oder Einschätzungen zu begründen. Darüber darf dann auch gestritten werden – nicht das Schlechteste für eine Demokratie, für die die Freiheit der Meinungen genauso konstitutiv ist wie deren Vielfalt.
Haltung garantiert Unabhängigkeit. Wer nur abbildet, was andere uns in den Notizblock diktieren, macht sich zum verlängerten Arm von Kampagnenführern. Das ist das große Missverständnis, dass sich hinter dem Dogma verbirgt, dass wir nur abbilden sollten, was sei. Ohne Einordnung, ohne Hinterfragung, ohne Kontext und Kritik läuft ein ausschließlich abbildender Journalismus immer Gefahr zum Propaganda-Instrument zu verkommen. Dass wir uns als Journalisten und Journalistinnen ein eigenes Bild machen und nicht nur wiederkäuen, kolportieren oder weiterverbreiten, muss gerade in Zeiten der großen digitalen Verwirrung wieder ins Zentrum unseres journalistischen Selbstverständnisses rücken. Das vor allem ist mit journalistischer Haltung gemeint, die Unabhängigkeit für sich beansprucht.
All dies mögen Selbstverständlichkeiten sein. Und doch schleicht sich das Gift einer Kampagne in die Hinterköpfe ein, die den „Haltungsjournalisten“ zum neuen Feindbild auserkoren hat. Dem gilt es entgegenzutreten – mit journalistischem Selbstbewusstsein und Haltung. Womit denn sonst?