Inhaftierte Journalisten mit anderen Gefangenen im Hungerstreik
Die Türkei stellt traurige Rekorde auf: 10.000 politische Häftlinge waren zeitweise im Hungerstreik. Er überlagerte das Interesse an dem großen Journalisten-Prozess, der Mitte November, in Silivri bei Istanbul, fortgesetzt wurde (M7/2012). Das in New York ansässige Internationale Komitee zum Schutz von Journalisten (Committee to protect Journalists, CPJ) resümiert: „In den 27 Jahren, in denen das CPJ über Journalisten in Gefängnissen berichtet, hat nur die Türkei selbst das Ausmaß der jüngsten Presse-Verfolgung übertroffen. 1996 inhaftierten die türkischen Behörden 78 Journalisten“. Derzeit sind es nach Erkenntnissen des CPJ „nur“ 76. Damit liege die Türkei vor repressiven Rivalen wie Iran, Eritrea und China.
Der Hungerstreik, mit dem der Kurdenkonflikt einen neuen Höhepunkt erreichte, hatte am 12. September mit 63 Teilnehmern begonnen. Ihm schlossen sich später etwa 700 weitere Gefangene und zuletzt alle etwa 10.000 politischen Häftlinge an, die derzeit im Rahmen der so genannten KCK-Verfahren teilweise seit 2009 in Untersuchungshaft sitzen. Hinzu kamen Politiker der legalen Kurdenpartei BDP. Sie forderten laut einem Brief der Sprecherin der Streikenden Deniz Kaya „Gesundheit, Sicherheit und Freiheit“ für den seit über einem Jahr in Isolationshaft gehaltenen Chef der kurdischen PKK-Guerilla, Abdullah Öcalan, die Aufhebung aller Verbote gegen die kurdische Sprache und das Recht, sich in ihrer Muttersprache zu verteidigen. Nach einem Aufruf von Öcalan selbst, den dessen Bruder Mehmet überbrachte, beendeten sie ihre Aktion.
Schon früh beteiligten sich sechs inhaftierte Journalisten am Hungerstreik. Auch sie fordern, sich auf Kurdisch verteidigen zu dürfen. Anwälte beklagten in Silivri, dass die arg geschwächten Mandanten rücksichtslos zum Gericht gekarrt worden seien. Der Angeklagte Kenan Kircaya durfte sich nicht zum Hungerstreik äußern. Daraufhin verließen Beklagte und Anwälte das Gericht. Die etwa 800 Seiten starke Anklageschrift wurde in ihrer Abwesenheit verlesen. Es geht im Wesentlichen um den Vorwurf der Zugehörigkeit zur Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), die der als terroristisch eingestuften PKK zugeordnet wird.
Die Anwälte fordern, die Beweise von einem Kommunikationswissenschaftler überprüfen zu lassen. Denn nach ihrer Ansicht gehören abgehörte Tele – fonate, Notizen und Terminkalender der Angeklagten schlicht zu deren Arbeit. Weiter bezweifeln sie, dass anonyme Zeugen überhaupt existieren. Deren Identität müsse bekannt gegeben werden
Richter Ali Alcin blieb bei seinem Nein vom September zu diesem Ansinnen. Nach fünf Prozesstagen vertagte sich das Gericht erneut, diesmal auf den 4. Februar. Von den 44 Angeklagten in diesem Prozess sind nun noch 32 seit über 10 Monaten in U-Haft. Immerhin wurden mit Cigdem Alsan und Oktay Candemir zwei kurdische Medienvertreter auf freien Fuß gesetzt.
Anhaltende Unterdrückung
Internationale Journalistenverbände sind alarmiert. So äußert die Europäische Journalistenföderation (EJF), deren Vorstandsmitglied Barry White den Prozess in Silivri beobachtete, in einem dramatischen Aufruf ihre „tiefe Sorge darüber, dass die anhaltende Unterdrückung unabhängiger und kritischer Journalisten zu einem sich verschärfenden Klima der Angst und einer alarmierenden Einschränkung der Medienfreiheit führte“. Der Direktor des Internationalen Presseinstituts IPI, Alison Bethel McKenzie, fordert Ankara auf, das „Klima der Angst ernsthaft zu bekämpfen, unter dem kritische Journalisten täglich leben müssen“.
Die dju-Hessen, die den inhaftierten Reporter Ömer Celik „adoptiert“ hat, beklagte anlässlich des Aktionstages „Stand up for Journalism“ am 5. November in einem offenen Brief: „Die weitreichende Anti- Terror-Gesetzgebung in der Türkei ermöglicht es zu unserem großen Bedauern, Journalisten allein wegen ihrer professionellen Arbeit zu verfolgen“. Und der besorgte Direktor des englischen Pen-Clubs Jo Glanville, nötigte dem türkischen Präsidenten Abdullah Gül gar ein Bekenntnis zur Meinungsfreiheit ab.
Die Praxis sieht jedoch anders aus. Denn neben den Journalisten sind in anderen KCK-Prozessen hunderte Politiker, Rechtsanwälte und Intellektuelle angeklagt, darunter der Bürgermeister der größten Kurdenstadt Diyarbakir, Osman Baydemir. Das größte Verfahren gegen 152 Angeklagte begann bereits am 18. Oktober 2010 in Diyarbakir. Schon damals saßen mehr als 50 von ihnen fast eineinhalb Jahre in Untersuchungshaft. Die Muster ähneln sich. Der Republikanische Anwaltsverein berichtet: „Keinem der Angeklagten wird eine konkrete Straftat und schon gar keine Beteiligung an irgendeiner Gewalttätigkeit vorgeworfen. Angeklagt sind vielmehr eine ganze Reihe von legalen politischen Tätigkeiten“. Als Delikt gilt schon, die Abkürzung PKK auf kurdisch wie „PeKeKe“ auszusprechen. Auf türkisch klingt das wie „PeKaKa“.
Um die Meinungsfreiheit geht es auch in den so genannten Ergenekon-Verfahren wegen angeblicher Putschpläne gegen die islamische AKP-Regierung durch Militärs und Angehörige entmachteter früherer Einflusskreise. Auch dort wird der AKP vorgeworfen, Kritiker mundtot machen zu wollen. Zu ihnen gehört der Journalist Ahmed Sik, der in einem Interview mit der Zeit sagte: „Jeder der schreibt und sendet, wird eingeschüchtert. Fast jeder könnte nach den Gesetzen als Terrorist angeklagt werden.“