Rolle rückwärts

Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg in die soziale (Mindest-)Absicherung ist die freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige. Sie wurde noch von der Rot-Grünen-Koalition im Zuge der Hartz-III-Gesetze Weihnachten 2003 beschlossen, schmorte aber völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit im Vermittlungsausschuss und wurde deshalb erst Ende 2005 endgültig verabschiedet.

Es war ein großes Weihnachtsgeschenk für die meisten Selbstständigen, die in der Regel kleine Einzelunternehmer und Freiberufler sind – ohne Netz und doppelten Boden. Brechen plötzlich Aufträge weg oder funktioniert das Geschäftsmodell nicht, droht ihnen Hartz IV. Am 1. Februar diesen Jahres startete die neue Absicherung – und wurde klammheimlich zum 31. Mai für alle, die vor 2004 selbstständig wurden, wieder kassiert. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion beschloss der Ausschuss für Arbeit und Soziales die Übergangsregelung für diesen Personenkreis, der eigentlich bis Jahresende einen Antrag hätte stellen können, zu kippen. Bereits am folgenden Tag, den 1. Juni wurde die Änderung im Kielwasser der umstrittenen Hartz-IV-Reform im Bundestag mit sofortiger Wirkung verabschiedet: Gültig ab 1. Juni! Wer noch einen Antrag stellen wollte, hätte dies bis Mitternacht tun müssen. Gegenwehr vom Bundesrat ist nicht zu erwarten. Bei dieser Art des Vorgehens darf Kalkül unterstellt werden. Dabei hatte die „Rolle rückwärts“ handfeste Gründe: Knapp vier Monate hatten gereicht, um der Bundesregierung einen Einblick in die Lebensrealität kleiner Selbstständiger zu vermitteln. Bis Ende März wurden 11.650 Anträge von Selbstständigen bewilligt. Zum Vergleich: Allein in ver.di sind rund 31.000 Selbstständige Mitglied. Dennoch wurde die Zahl der Anträge offensichtlich als so gigantisch empfunden, dass in den Regierungsreihen Panik ausbrach. Denn wer einzahlt, könnte theoretisch auch irgendwann Leistung erwarten. Das Institut der Deutschen Wirtschaft hatte bereits zuvor behauptet, es handele sich um eine „Einladung zum Missbrauch“. Der Vorwurf: Im Extremfall könne ein Selbstständiger zwölf Monate einzahlen und dann sechs Monate Urlaub genießen. Leistungsbezieher = Nassauer auf Kosten der Allgemeinheit? Eine derzeit sehr beliebte Gleichung, um (sozial-)politischen Unsinn zu verkaufen. Doch warum wurde die Arbeitslosenversicherung für Selbstständige dann nicht komplett gekippt? Nun ja, gedacht war dieses Vorhaben offenbar vor allem für Arbeitslose, die in die Selbstständigkeit und damit aus der Statistik gelockt werden sollen. Angesichts der mauen Wirtschaftslage meinte man wohl, dass es dafür mehr als nur der Peitsche bedarf. Die Erkenntnis: Hier muss ein bisschen Zucker her – eine freiwillige Arbeitslosenversicherung. Wie schnell sich derartige „süße Kristalle“ im sozialen Sparwasser deutscher Politik wieder auflösen, haben nunmehr viele Selbstständige einmal mehr erfahren müssen.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Initiative: KI besser nutzbar machen

Der Dominanz der globalen Big-Tech-Konzerne etwas entgegensetzen – das ist das Ziel einer Initiative, bei der hierzulande zum ersten Mal öffentlich-rechtliche und private Medienanbieter zusammenarbeiten. Sie wollen mit weiteren Partnern, vor allem aus dem Forschungsbereich, ein dezentrales, KI-integriertes Datenökosystem entwickeln. Dadurch soll die digitale Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Medienstandorts gestärkt werden.
mehr »

Anteil von Frauen in Führung sinkt

Nach Jahren positiver Entwicklung sinkt der Anteil von Frauen in Führungspositionen im Journalismus das zweite Jahr in Folge. Der Verein Pro Quote hat eine neue Studie erstellt. Besonders abgeschlagen sind demnach Regionalzeitungen und Onlinemedien, mit Anteilen von knapp 20 Prozent und darunter. Aber auch im öffentlichen Rundfunk sind zum Teil unter ein Drittel des Spitzenpersonals weiblich.
mehr »

dju fordert Schutz für Medienschaffende

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di fordert nach dem erschreckend milden Urteil im Verfahren zum Angriff auf Journalist*innen in Dresden-Laubegast staatlich garantierten Schutz für Medienschaffende. Über zehn Männer hatten im Februar 2022 in Dresden-Laubegast am Rande einer Demonstration im verschwörungsideologischen Milieu sechs Journalist*innen und ihren Begleitschutz angegriffen.
mehr »

Unsicherheit in der Medienlandschaft

Künstliche Intelligenz (KI) und ihre Auswirkungen auf die Medienbranche wurden auch bei des diesjährigen Münchner Medientagen intensiv diskutiert. Besonders groß sind die Herausforderungen für Online-Redaktionen. Im Zentrum der Veranstaltung  mit 5000 Besucher*innen, mehr als 350 Referent*innen aus Medienwirtschaft und -politik, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft, stand allerdings die Frage, wie Tech-Konzerne reguliert werden sollten.
mehr »