Vom Kansas City Milkman und anderen Aspekten des Agenturjournalismus

Die klassische Nachricht hat ihre traditionelle Rolle behalten

  • Vom Kansas City Milkman hört man kaum noch – aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht liegt es daran, daß sein Beruf ausstirbt. Früher war er stets präsent, wenn vom typischen Durchschnittsleser in den USA die Rede war. Generationen von Journalisten bei amerikanischen Nachrichtenagenturen beriefen sich auf diesen Milchmann, so wie ihre deutschen Kollegen auf das sprichwörtliche Lieschen Müller oder die Oma aus der Lüneburger Heide. Über den Beruf des französischen Verwandten all dieser Medienkonsumenten ist nichts bekannt, sehr wohl kennt man aber seinen Wohnort: Plougastel Daoulas.Die Story, so wurde den Reportern eingetrichtert, muß für diese legendären Leser, Hörer oder Seher verständlich sein, sonst taugt sie nichts. Das führte, mit Blick nach Kansas City, zu wahren Meisterwerken wie folgender Beschreibung eines europäischen Kleinstaates: „The tiny Principality of Liechtenstein, sandwiched between Austria and Switzerland …“ Auch wenn er nun nicht mehr genannt wird, hat der Milchmann seine Bedeutung in der Welt der Agenturen nicht verloren, die sonst in vielen Bereichen einen radikalen Wandel erlebt hat. Als der deutsche Dienst der AP im Jahre 1975 vom gemütlichen, wenn auch lauten Fernschreiber auf Computer umgestellt wurde, betrug die Sendegeschwindigkeit 50 Baud (Zeichen pro Sekunde, neuerdings Bits genannt). Inzwischen beläuft sie sich au 1200 Baud, in diesem Jahr noch soll sie auf mindestens 4500 gesteigert werden. Die technischen Veränderungen im Bereich der Fotodienste der Nachrichtenagenturen sind geradezu revolutionär.
  • Geradezu altmodisch wirkt in dieser elektronischen Landschaft, daß die klassische Nachricht ihre traditionelle Rolle behalten hat. „Infotainment“ und das „Verfietschern“ von Nachrichten, eine zeitlang Modeerscheinungen, sind wieder auf dem Rückzug. Geblieben ist freilich der Zwang zur Kürze, der sich bei AP in der Anweisung niederschlug, daß eine Zusammenfassung nicht mehr als 450 Worte, eine aktuelle Reportage höchstens 600 Worte umfassen dürfe. Andererseits verlangen Zeitungs-, Hörfunk und Fernsehredaktionen von den Agenturen seit Jahren mehr Erklärendes und Hintergrundberichte.Und ein „Lead“ darf bei AP höchstens noch acht Zeilen lang sein. Nach wie vor entscheidet die Attraktivität dieses ersten Absatzes sehr häufig über den Abdruck von Agenturberichten in den angeschlossenen Zeitungen. Ein Umstand, der Agenturjournalisten seit jeher zu Höchst- und auch Fehlleistungen anspornt und Blüten wie diese hervorgebracht hat: „Der größte Schleppzug auf der Unterweser seit Kriegsende …“ In diesen und anderen Fällen muß gelegentlich das entschuldigende Argument herhalten, daß in Deutschland, wo sich fünf Agenturen und zusätzlich eine Reihe Spezialagenturen tummeln, ein so intensiver Wettbewerb auf dem Nachrichtenmarkt herrsche, wie in kaum einem anderen Land.
  • Die Fülle an Angeboten ändert freilich nichts an der uralten Erfahrung, daß die Großhandelsunternehmen für Nachrichten in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind, obwohl viele Millionen Menschen tagtäglich ihr Produkt konsumieren. Agenturredakteure haben große Mühe, selbst ihrer näheren Umgebung deutlich zu machen, womit sie sich beschäftigen. Legionen von ihnen kennen die Rückfrage: „Wie heißt diese Zeitung?“ So ist die Arbeit weitgehend anonym, wenn auch in den letzten Jahren die Nachfrage nach sogenannten Namensartikeln erheblich gestiegen ist. Immer noch gilt die Faustregel: Wer journalistischen Starruhm sucht, meidet dieses Geschäft oder benutzt es als eine Art Durchlaufstation. Bei anderen Medien sind Redakteure und Reporter mit Agenturerfahrung überaus geschätzt.Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie der Agenturredakteur die Auswahl der Nachrichten trifft. Ein im amerikanisch geprägten Agenturslang Slotter genannter Chef vom Dienst pflegte Besuchern zu antworten, er könne das nicht erklären, er könne es allenfalls demonstrieren. Und er gab zu, daß gelegentliche Fehlgriffe nicht auszuschließen sind. Als etwa die Pariser Polizei im Bois de Boulogne gegen Prostituierte beiderlei Geschlechts vorging, stufte der Chef vom Dienst der deutschen AP die ausführliche Meldung aus Paris als „lokale Kiste“ ein und warf sie in den Papierkorb, während die Konkurrenz mit dem Bericht Erfolge feierte. Daran, daß dies einem Slotter nicht öfter passiert, hindert ihn vor allem die Erfahrung, die Routine. Dazu muß noch ein „möglichst untrügliches Gespür für die Nachricht“ kommen, wie es AP-Chefredakteur Peter Gehring formuliert. Viel genauer kann auch er das Verfahren nicht beschreiben.
  • Immerhin laufen in der Auslandsredaktion seines deutschen Dienstes täglich etwa 1200 Meldungen aus dem englischsprachigen Weltdienst dieser Agentur ein, nur rund 120 davon werden übernommen. Und ein Bruchteil der rund 250 Meldungen, die der deutsche Dienst täglich verbreitet, werden von den Kundenzeitungen abgedruckt oder von der elektronischen Kundschaft ausgestrahlt. Das ist für Neulinge in der Branche eine frustrierende Erfahrung, doch die neuen technsichen Möglichkeiten versprechen eine bessere Ausnutzung des Angebots.Die unauffälligsten, und dabei unentbehrlichen, Arbeiter im Weinberg der Agenturen sind jene Auslandsredakteure, die tagaus, tagein Nachrichten aus dem Englischen (oder einer anderen Sprache) übertragen. Dabei benutzen sie die englischen Vorlagen als Rohmaterial, aus dem sie ihre deutschen Berichte bauen. Als es 1971 zu einem – bis dahin in Deutschland beispiellosen, rund zehn Tage dauernden – Streik der Redakteure des deutschen Dienstes von UPI kam, wurde die Bereitschaft zum Arbeitskampf auch von der Erbitterung der Auslandsredaktion getragen: Die Geschäftsleitung hatte in den Gehaltstarifverhandlungen zuvor abschätzig argumentiert, die Arbeit dieser Journalisten bestehe ja „nur im Übersetzen“.
  • Zu den Schätzen des einen oder anderen dieser Redakteure gehören Sammlungen von Übersetzungs-, Übertragungsfehlern, deren Existenz sich ungeachtet aller möglichen Veränderungen des Berufs als dauerhaft erweist. So griff ein Kollege gründlich daneben, als vor Jahren ein Politiker der USA den neuen sowjetischen Parteichef Andropow einen „closet liberal“ (heimlichen Liberalen) nannte. Der deutsche Redakteur dachte offenbar an einen stillen Ort und übersetzte den Begriff mit „Scheißliberaler“. Und kurzen Prozeß machte ein anderer, dem bei der Arbeit ein „court of assizes“ begegnete, womit ein Berufungsgericht gemeint war. Da die Meldung im englischen Dienst aus Italien kam, schrieb er: „Das Amtsgericht von Assisi“.
nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Österreich: Gefahr für die Pressefreiheit

In Österreich ist die extrem rechte FPÖ bei den Nationalratswahlen stärkste Kraft geworden. Noch ist keine zukünftige Koalition etabliert. Luis Paulitsch erklärt im Interview, welche Entwicklungen in der österreichischen Medienlandschaft zu erwarten sind, sollten die FPÖ und ihr Spitzenkandidat Herbert Kickl an der Regierung beteiligt werden. Paulitsch ist Jurist, Zeithistoriker und Medienethiker. Von 2019 bis 2024 war er Referent des Österreichischen Presserats, dem Selbstkontrollorgan der österreichischen Printmedien;  seit 2024 bei der Datum Stiftung für Journalismus und Demokratie.
mehr »

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »

ARD & ZDF legen Verfassungsbeschwerde ein

Nachdem die Ministerpräsident*innen auf ihrer Jahreskonferenz Ende Oktober keinen Beschluss zur Anpassung des Rundfunkbeitrags ab 2025 fassten, haben heute ARD und ZDF Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di begrüßt die Initiative.
mehr »

AfD als Social Media Partei überschätzt

Eng vernetzt mit dem extrem- und neurechten Vorfeld und gezielt provozierend mit rassistischem Content: Die Landtagswahlkämpfe der AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg waren von einer hohen Mobilisierung geprägt, auch über die sozialen Medien. Eine aktuelle Studie der Otto Brenner Stiftung (OBS) in Frankfurt am Main zeigt nun aber: die Auftritte der AfD auf Social Media sind weit weniger professionell als zuletzt häufig kolportiert und es gibt deutliche regionale Unterschiede.
mehr »