Whistleblower noch immer ohne Schutz

Whistleblower umfassend schützen! Foto: 123rf

Seit die Whistleblower-Richtlinie der EU beschlossen wurde, sind zwei Jahre vergangen und noch immer ist unklar, ab wann „Hinweisgeber“, die Missstände und Gesetzesverstöße aufdecken, in Deutschland mit einem Schutzgesetz rechnen können. Bis zum 17. Dezember 2021 hatte die Bundesregierung Zeit, die Richtlinie in nationales Recht zu fassen – aber bisher ist nichts geschehen. Jetzt leitet die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und 23 weitere EU-Mitgliedsstaaten ein.

Die EU-Richtlinie soll größere Unternehmen sowie Behörden dazu verpflichten, Kanäle einzurichten, über die Verstöße gegen EU-Recht gemeldet werden können. Bisher liegt kein Referentenentwurf für entsprechende Regelungen aus dem Bundesjustizministerium unter FDP-Minister Marco Buschmann vor. „Die zügige Umsetzung der Hinweisgeber-Schutzrichtlinie hat für uns hohe Priorität. Es handelt sich aber um ein komplexes Vorhaben“, so eine BMJ-Sprecherin gegenüber M.

Tatsächlich kann die Bundesregierung dem von der EU-Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren noch relativ gelassen entgegensehen: Zunächst bleiben zwei Monate Zeit, um sich gegenüber der Kommission zu äußern. Erst nach einer begründeten Stellungnahme derselben kommt dann die Klageerhebung beim Europäischen Gerichtshof infrage, welche zu finanzielle Sanktionen führen könnte.

Der zeitliche Verzug ist jedoch weniger der regierenden Ampel-Koalition anzulasten. Dass die EU-Richtlinie noch nicht in deutsches Recht umgesetzt wurde, lag vor allem an Uneinigkeiten innerhalb der Großen Koalition. Das SPD-geführte Justizministerium beabsichtigte, Hinweisgeber auch über die Minimalvorgaben der EU hinaus zu schützen, während die CDU eine vermeintlich unternehmensfreundlichere Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben verfolgte und die Vorschläge des Koalitionspartners erfolgreich torpedierte. „Vor allem das CDU-geführte Wirtschaftsministerium hat einen passablen Referentenentwurf aus dem BMJV von November 2020 blockiert. Begründung: Eine Überbelastung der Wirtschaft durch kodifizierten Whistleblowerschutz“, erklärt Annegret Falter, Vorsitzende des Whistleblower-Netzwerks, das sich seit Jahren für einen besseren Schutz von Hinweisgebern einsetzt.

Mit der Ampelkoalition stehen nun die Zeichen auf einen deutlich weiterreichenden Whistleblowerschutz, der auch Meldungen von Verstößen gegen nationales Recht miteinschließt. „Dieser Ansatz ist der einzig vernünftige. Nur so kann Rechtssicherheit für Whistleblower gewährleistet werden“, begrüßt Falter die Koalitionspläne. „Wären nur Hinweise auf Verstöße gegen ausgewählte EU-Rechtsakte geschützt, so dürfte ein Whistleblower Verstöße etwa gegen deutsches Strafrecht nicht melden. Diese juristische Unterscheidungsfähigkeit kann keinem Arbeitnehmer abverlangt werden.“

Die Pläne der Ampel-Koalition gehen sogar noch weiter. Der Schutz vor Repressalien wie Kündigung und Versetzung soll auch wirksam werden bei der Meldung von „erheblichen Verstößen gegen Vorschriften oder sonstigem erheblichen Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt“, wie es auf Seite 111 des Koalitionsvertrages heißt. Bevor ein entsprechender Entwurf vorliegt, lässt sich natürlich nur mutmaßen, worauf die Formulierung „erhebliches Fehlverhalten“ abzielt und ab wann ein „besonderes öffentliches Interesse“ gegeben ist. Missstände im Arbeitsumfeld beim Namen nennen zu können, auch wenn kein klarer Rechtsverstoß vorliegt, könnte aber in Zukunft unter anderem gewerkschaftlich engagierten Arbeitnehmer*innen im Pflegebereich den Rücken stärken, die dem Bespiel der Krankenpflegerin Brigitte Heinisch folgen und Mängel bei der Versorgung von Patient*innen öffentlich machen.

Heinisch hatte von 2005 bis 2011 mit Unterstützung von ver.di einen erbitterten Rechtsstreit mit dem Berliner Klinikkonzern Vivantes geführt. Nachdem die Pflegerin die Vernachlässigung von Patient*innen in ihrem Pflegeheim öffentlich angeprangert hatte, wurde ihr zunächst eine krankheitsbedingte und schließlich eine fristlose Kündigung ausgesprochen. Ihre Klage gegen die Kündigung wurde vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg abgewiesen, das Bundesarbeitsgericht nahm das Verfahren gar nicht erst auf und auch eine Verfassungsbeschwerde wurde abgelehnt. Erst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde ihr Recht gegeben: Da sie auf für die Öffentlichkeit bedeutsame Missstände hingewiesen habe, sei sie vom Menschenrecht auf Meinungsfreiheit geschützt.

Dieser langwierige, kraftaufreibende Prozess verdeutlicht, welchen Unterschied ein deutsches Whistleblower-Schutzgesetz machen könnte: Erst wenn der rechtliche Schutz von Hinweisgebern nicht mehr infrage steht, kann es gelingen, sich mit angezeigten Mängeln selbst auseinanderzusetzen und diese zu beseitigen. Die spektakulären Skandale um Panama Papers, Danske Bank oder zuletzt Facebook, durch die Whistleblower zu Medienhelden avancierten und zum Teil hohe Belohnungen erhielten, dürfen nicht davon ablenken, worum es beim Hinweisgeben auf Straftaten, Korruption und andere Missstände am Arbeitsplatz letztlich geht: um ein Recht jedes Einzelnen und um eine Grundlage der Demokratie.

 

 

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