Der lange Schatten von Stuttgart21

oder … Wie viel Pressefreiheit darf es sein?

„Dass so viele Leute zu einer Veranstaltung zum Thema Pressefreiheit kommen, hätte ich nicht gedacht.“ So der Mainzer Fernsehjournalist Uli Röhm vor über 400 Menschen im überfüllten großen Saal des Stuttgarter Gewerkschaftshauses bei einer von der dju Baden-Württemberg organisierten Veranstaltung.

Mit Linienbussen werden bayerische Polizisten zur Räumung d3er Straße vor dem Süsflügel des Stuttgarter Bahnhofs gefahren.  Foto: Jo E. Röttgers
Mit Linienbussen werden bayerische Polizisten zur Räumung der Straße vor dem Südflügel des Stuttgarter Bahnhofs gefahren.
Foto: Jo E. Röttgers

Das Interesse war wohl auch deshalb so groß, weil viele Besucher in den Folgetagen einen massiven Polizeieinsatz gegen Demonstranten und Blockierer am Stuttgarter Hauptbahnhof befürchtet hatten und dabei eine Einschränkung der freien Berichterstattung. Denn die Polizei hatte einigen wenigen Journalisten „embedded journalism“ angeboten. Andere sollten nicht vom Ort des Geschehens berichten dürfen. „Der Begriff embedded journalism erinnert an den Irak-Krieg“, sagt Uli Röhm von ver.di im ZDF. Als Journalistengewerkschaft lehne ver.di diese Art von Bevormundung prinzipiell ab. „Es könne nicht angehen, dass das Polizeipräsidium einigen Kollegen die exklusive Berichterstattung garantiert und die anderen in eine Bericht-Zone zweiter Klasse verweisen will“, ergänzt Renate Angstmann-Koch vom Landesvorstand der dju. Eingebetteter Journalismus widerspreche Artikel 5 des Grundgesetzes. Auch nach immer noch gültigen „Verhaltensgrundsätzen für Presse/Rundfunk und Polizei“, die die Innenminister 1993 beschlossen hatten, müssten Medien „aus unmittelbarer Kenntnis und Beobachtung“ berichten dürfen, so die Redakteurin des Schwäbischen Tagblatts.
Die Proteste der Journalisten und ihrer Gewerkschaft fruchteten nur teilweise. So sah sich das Polizeipräsidium veranlasst, die Zahl der „Eingebundenen“ zu erhöhen. Die gemeinsamen Stunden im Polizeibett selbst waren dann eher belanglos. Pressefotograf Jo Röttgers fasst sein Exklusiverlebnis so zusammen: „Warten, warten, warten.“ Zuletzt durften die Medienleute zusammen mit einer Hundertschaft zum Einsatzort am Südflügel des Bahnhofs laufen, dem Ort, auf den es ankam. Denn dort versuchten Stuttgart21-Gegner mit einer Blockade zu verhindern, dass ein Bauzaun errichtet wird.

dju kritisiert „embedded journalism“

„Damit endete der Einsatz als eingebetteter Reporter“, berichtet Sandro Mattioli von der Kontext:Wochenzeitung. „Denn auf dem zu räumenden Gebiet konnten sich alle Journalisten frei bewegen.“ Erst Stunden später forderte ein Polizist Kameraleute und Fotografen auf, das Gelände zu verlassen: „Sie haben sich hier lange genug aufhalten dürfen.“ Oder: „Sie sind nicht akkreditiert; sie sind kein Pressemann.“
Hintergrund: Im September 2010 waren im Schlossgarten gleich neben dem Hauptbahnhof bei einer gewaltsamen Räumung mehrere hundert Demonstranten gegen Stuttgart21verletzt worden; der Ingenieur Dieter Wagner hatte durch einen Strahl aus dem Wasserwerfer sein Augenlicht verloren. Mittlerweile haben der Polizeipräsident und die Regierung gewechselt. Dem schwarzen Stefan Mappus folgte der grüne Winfried Kretschmann, der eine neue Politik des „Gehört-Werdens“ verkündet hat. Doch weder sein neuer Innenminister Reinhold Gall (SPD) noch Polizeipräsident Thomas Züfle sind der Einladung der dju gefolgt, bei ihrer Veranstaltung über Pressefreiheit zu sprechen.
Der baden-württembergische ver.di-Mediensekretär Gerhard Manthey hat Züfle und seinem Pressesprecher Stefan Keilbach die Kritik des dju-Landesvorstands nochmals in einem Schreiben erläutert. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass ver.di jedem dju-Kollegen Rechtsschutz geben wird, wenn er nachweislich an der freien Berufsausübung gehindert werde. Begrüßt hat Manthey die Absicht des Polizeichefs, ausgewählte Vertreter neuer Medien wie hauptberuflich tätige Journalisten zu behandeln. Gemeint sind vor allem die Kamera-Leute der Gruppe CamS21, die ihre Aufnahmen über das Internet live verbreiten.

Kameras beschlagnahmt

Kristian Frank, der Rechtsanwalt der Live-Streamer, muss sich zurzeit aber mit einem anderen Fall eingeschränkter Pressefreiheit beschäftigten. Die Polizei, so berichtete er bei der Veranstaltung im Gewerkschaftshaus, habe letztes Jahr Festplatten, Kameras und Rechner der Bildreporter beschlagnahmt. Man werfe ihnen schweren Landesfriedensbruch vor: Sie hatten über die mehrstündige Besetzung eines eingezäunten Baugeländes berichtet, an der sich mehrere 1.000 Menschen beteiligt hatten. Mit einem ähnlichen Problem musste sich Rechtsanwalt Martin Heiming herumschlagen. Er vertrat Pressefotografen, die 2010 die kurzzeitige Besetzung des Nordflügels beobachtet hatten. Die Polizei hatte sie mehrere Stunden lang festgehalten und an der Ausübung ihres Berufes gehindert. Die Verfahren wegen Hausfriedensbruchs sind mittlerweile eingestellt.
Die Medienrechtlerin Stefanie Brum berichtete über einen Video-Clip zur Volksabstimmung über Stuttgart21, dessen Verbreitung das Landgericht per Einstweiliger Verfügung auf Antrag von Arbeitgeberchef Dieter Hundt untersagt hatte. Auch dies sei ein Angriff auf die Meinungsfreiheit gewesen, erklärte Walter Sittler, der in dem 40-Sekunden-Spot auftrat. Der Schauspieler sah sich darin die Arbeitgeber-Werbung im Kino an und kommentierte sie. Für Dieter Hundts Anwalt eine Verletzung des Urheberrechts. Stefanie Brum dagegen berief sich auf das Zitatrecht. Das Verfahren wurde nach der Volksabstimmung eingestellt. Die Arbeitgeber übernahmen die Kosten.
Kurz vor Redaktionsschluss hat die Polizei weitere Einsätze rund um den Stuttgarter Bahnhof angekündigt. Wieder soll selektiert werden: „Maximal zwölf Medienvertreter können aus organisatorischen Gründen den Polizeieinsatz eingebunden begleiten.“ Wegen der „Übersicht der Einsatzkräfte“ sollen diese Reporter farbige Westen tragen.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Safer reporting: Schutzkodex auf der re:publica

Das gesellschaftliche Klima ist eines der ganz großen Themen auf der diesjährigen Digitalmesse re:publica in Berlin. Auch Journalist*innen sind zunehmend Hass und Bedrohungen ausgesetzt – bei der Recherche, auf Demos oder in sozialen Medien. Das gefährdet nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Pressefreiheit insgesamt.  Dagegen hilft der Schutzkodex.
mehr »

„Das Arbeitsklima ist extrem hart“

In der Nahaufnahme für das Jahr 2025 beschäftigt sich Reporter ohne Grenzen (RSF) unter anderem mit der deutschen Berichterstattung zum Gaza-Krieg nach dem Überfall der Hamas auf Israel. Von der Organisation befragte Journalist*innen sprechen über massiven Druck, Selbstzensur und erodierende journalistische Standards. Ein Interview mit Katharina Weiß, Referentin bei Reporter ohne Grenzen Deutschland.
mehr »

AfD-Einstufung zwingt Rundfunkgremien zum Handeln

Das zunächst unter Verschluss gehaltene Gutachten des Verfassungsschutzes, welches zur Einstufung der Partei Alternative für Deutschland (AfD) als „gesichert rechtsextremistische Partei“ führte, wurde nunmehr durch Medien veröffentlicht. Innenminister Dobrindt ließ zunächst offen, inwiefern juristische Schritte gegen die Veröffentlichung geplant seien. Christoph Schmitz-Dethlefsen, für Medien zuständiges Mitglied im Bundesvorstand von ver.di, begrüßt, dass nun öffentlich über das Zustandekommen der Einstufung diskutiert werden kann.
mehr »

Vernetzte Frauen im Journalismus

Sich als Frau in einer Branche behaupten müssen, in der Durchsetzungskraft und Selbstbewusstsein entscheidende Faktoren sind: Für Generationen von Journalistinnen eine zusätzliche Belastung im ohnehin schon von Konkurrenz und Wettbewerb geprägten Beruf. Angesichts dieser Herausforderung sind Netzwerke und solidarische Bündnisse von großer Bedeutung. Der Journalistinnenbund (JB) hatte hierbei seit seiner Gründung im Jahr 1987 eine Vorreiterrolle inne. Sein Anliegen: Geschlechtergleichstellung in den Medien erreichen.
mehr »