Erinnern, um das Schweigen zu brechen

Ginna Morelo, kolumbianische Journalistin, die das digitale Museumsprojekt "Entre Ríos" aufbaute. Es steht seit wenigen Tagen online. Foto: Reporter ohne Grenzen

„Entre Ríos“, zwischen Flüssen, heißt das digitale Museum von Ginna Morelo. Vor wenigen Tagen ging das innovative Projekt der kolumbianischen Journalistin online. Dank eines Stipendiums von Reporter ohne Grenzen ist es in Deutschland entstanden. Von Berlin aus recherchierte Morelo in Europa, traf Zeugen und feilte an ihrem digitalen Ort der Erinnerung. Animieren zum Dialog und zur Auseinandersetzung will sie und so das Schweigen brechen. Das lastet seit der Herrschaft der Paramilitärs auf der Gesellschaft.

Mit einem Klick auf den Botton „Explorar“ beginnt alles im Online-Museum „Entre Ríos“. Ein Tagebuch ploppt auf, wird dreidimensional und füllt sich mit einem mächtigen Gebäude, zwei Flüssen, einem Boot, ein paar Palmen, Pferden, Reihern und den Gesichtern zweier Menschen – ein bärtiger Mann mit Brille und Bart sowie eine indigene Frau. Der eine, Hochschullehrer Alberto Alzate Patinõ, ist tot, die andere, Martha Domicó, lebt. Mit ihr war Ginna Morelo im letzten Jahr im Departamento Córdoba unterwegs, um den Dokumentarfilm „Reise in die Stille“ zu drehen.

Der steht nun in der „Sala audiovisual“ vom „Museo Entre Ríos“ und bildet den Auftakt für ein ehrgeiziges Projekt. Das Schweigen brechen in einer Region, wo mehrere Jahre die Paramilitärs das Leben kontrollierten und prägten, will Ginna Morelo mit ihrem digitalen Museum und dessen vier Sälen. Hier sollen die Opfer, die Zeugen, aber auch die geständigen Täter zu Wort kommen, die historische Entwicklung nachgezeichnet und so die Grundlagen für die Erinnerungsarbeit gelegt werden. Anstiften zum Dialog, zur Auseinandersetzung will das Team um Ginna Morelo, kolumbianische Journalistin aus Montería, der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Córdoba. Rekonstruieren was zwischen 1996 und 2006 dort passiert ist und es soweit wie möglich visualisieren. Dabei konzentriert sich die Journalistin auf zwei Ereignisse: den Bau des Urrá I. Staudammes mitten im Naturschutz- und Siedlungsgebiet der Embera Katío und die Vertreibung der indigenen Ethnie durch Paramilitärs, die auch die Universität von Montería übernahmen. Beides hänge zusammen: „Die Embera Katío erhielten Unterstützung von Professor*innen und Dozent*innen der Universität von Montería, die die Umweltauswirkungen des Staudammprojekt Urrá I untersuchten. Diese Studien waren der Grund, weshalb Professor Alberto Alzate Patinõ ermordet wurde“, sagt Ginna Morelo.

Das belegen auch Aufzeichnungen von Kimy Pernía Domicó, einem von den Paramilitärs ermordeten Anführer der Ethnie, die Ginna Morelo letztes Jahr beim Drehen des Filmes in der Region von seiner Tochter Martha Domicó ausgehändigt bekam. Für das Museum ein Glücksfall, denn dort sollen Dokumente eingesehen werden können, Zeugen gehört und Abläufe rekonstruiert werden, um aufzudecken wie es dazu kam, dass eine ganze Region unter dem Terror der Paramilitärs verstummte.

Die mit Graffitis bedeckte Fassade der Universität in Montería im Jahr 2009. Damals besuchte eine internationale Delegation Montería. Dozenten, Angestellte und Studenten machten auf die jahrelange Präsenz der Paramilitärs an der Universität aufmerksam. Foto: Knut Henkel

Offene Rechnung mit der eigenen Geschichte begleichen  

Mehr als zehn Jahre hat Ginna Morelo mit ihrem zweiten Anlauf gewartet. 2009 hatte sie, damals noch Lokaljournalistin für „El Meridiano de Córdoba“, ihr Buch „Blutige Erde“ herausgebracht. Darin kamen erstmals die Opfer der paramilitärischen Gewalt zu Wort: Witwen von Professoren und Dozenten, Martha Domicó, deren Vater Kimy Pernía  Domico am 2. Juni 2001 von Paramilitärs entführt und ermordet wurde, Gewerkschafter*innen und Menschenrechtsaktivist*innen, die vor dem paramilitärischen Terror ins Ausland flohen.

Zu einigen von ihnen hat Morelo, die als vielfach prämierte Journalistin mittlerweile investigative Recherche an der Javeriana Universität in Bogotá lehrt, den Kontakt gehalten. „Mir war immer klar, dass nicht alles erzählt war“. Die offene Rechnung mit der eigenen Geschichte und der ihrer Herkunftsregion hat Morelo mitten in der Pandemie begonnen, zu begleichen. Unterstützt von Reporter ohne Grenzen, der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Javeriana Universität hat sie das Konzept des virtuellen Museums entwickelt und fast ein Jahr in Berlin gearbeitet, um in Europa exilierte Zeugen zu sprechen und das Buch zu schreiben, welches parallel zur „Museumseröffnung“ erscheinen soll.

Aus insgesamt vier Sälen wird das Online-Museum bestehen, wenn es eines Tages komplett ist. Seit Anfang des Jahres ist die Homepage des Museums in Montería öffentlich. Gespannt ist Morelo auf die Reaktionen, denn auch rund fünfzehn Jahre nach den eigentlichen Ereignissen ist die Region Córdoba alles andere als befriedet. „Bei den Dreharbeiten zum Film mussten wir Passierscheine beantragen, um dort zu drehen, wo die Embera Katío leben – bei den neo-paramilitärischen Banden“, erinnert sich Morelo. Diese Strukturen machen die journalistische Recherche in vielen Regionen Kolumbiens weiterhin extrem riskant. Vor allem Regionalreporter seien gefährdet, erklärt Morelo, die in Bogotá immer wieder mit der Stiftung für Pressefreiheit (FLIP) zusammenarbeitete, um Formate zu schaffen wie die „Liga gegen das Schweigen“. Dort landen Berichte über besonders riskante Gemeinden in Kolumbien, unter anderem um Redaktionen aus den großen Städten des Landes aufmerksam zu machen und die Stille zu durchbrechen.

 

 

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