Russland zur Wahlzeit: Redaktionen nahezu handlungsunfähig
Über Pressefreiheit in Russland zu sprechen, heißt über ein Mißverständnis zu sprechen, nämlich über die Verwechslung von Gesetzlichkeit und Demokratie. Mit der Ankündigung, den weiteren Zerfall von Staat und Gesellschaft durch eine „Diktatur des Gesetzes“ abzulösen, wurde Wladimir Putin im Frühjahr 2000 als Präsident gewählt.
Mit seiner Erklärung kam Putin dem tiefen Bedürfnis der Mehrheit der russischen Bevölkerung nach einem Ende der sozialen und politischen Desintegration Russlands und der Wiederherstellung stabiler Verhältnisse nach. Er war keineswegs der einzige, der mit solchen ordnungspolitischen Parolen auftrat; er übernahm sie von den Kritikern Boris Jelzins, von Alexander Lebed zur Rechten und KP-Chef Gennadij Szuganow zur Linken. Aber Wladimir Putin war derjenige, der von der neuen „Elite“ als Nachfolger Jelzins akzeptiert wurde, weil er bereit war, mit dessen Vertretern ein Stillhalteabkommen zur Legalisierung der von ihnen geschaffenen neuen Vermögensverhältnisse zu schließen.
Heute ist die Flut neuer Maßnahmen, Verordnungen und Gesetze, die unter dem Einfluss des neuen Präsidenten über die alten Verhältnisse geschwappt sind, ohne dass diese wirklich eliminiert worden wären, unüberschaubar. Hinzu kommt der außerparlamentarische präsidiale Verwaltungsapparat, den Putin neben den bereits bestehenden alten und neuen Verwaltungsstrukturen installierte, um die Eindämmung der alten Mächte zu kontrollieren. Das begann bei der Einsetzung von sieben Regionalverwaltern als Wächter für die Gouverneure und endete bei der Ernennung der Vorstände örtlicher Selbstverwaltung von oben anstelle der zuvor von unten gewählten. Eine krebsartige Wucherung der Bürokratie in einer gesetzlich überregulierten Gesellschaft ist die Folge.
Juristisches Chaos
Das ist die Grundkonstellation, von der auch die Lage der Medien zwischen Duma-Wahl im Dezember und Wahl des Präsidenten am 15. Januar geprägt war. Die russische Verfassung, in Vielem nach deutschem Muster entworfen, garantiert russischen Staatsangehörigen Meinungsfreiheit und den Medien die Freiheit des Wortes; die Reformen der Putinschen Amtsperiode stellen den Anspruch, dieser Verfassung zur Geltung zu verhelfen. Real jedoch lässt eine Masse von zusätzlichen Erlassen, Bestimmungen und Einzelgesetzen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, sowie deren unterschiedliche regionale Interpretationen und Traditionen ein heilloses Rechtschaos entstehen, in dem Journalisten, Sender und Verlage sich nur noch mit Hilfe ausgeklügelter und gesondert zu beschäftigender Rechtsberater bewegen können.
Es beginnt bei den neuen Militär- und Sicherheitsdoktrinen, sowie einer ganzen Batterie nachgeordneter Leitsätze nach Art der „patriotischen Bildungsreform“ und anderer, denen zufolge Veröffentlichungen, die den „Sicherheitsinteressen des Landes zuwiderlaufen“, mit Strafe bedroht werden. Das gipfelt in der von Putin geschaffenen Informations-Leitzentrale am Präsidialamt, die die Berichterstattung zum Krieg in Tschetschenien kontrolliert.
Es folgen steuerliche und wirtschaftliche Gesetze, Lizenzordnungen und allgemeine verwaltungsrechtliche Maßnahmenkataloge, deren widersprüchliche Bestimmungen dazu führen, dass praktisch jeder Journalist, Sender oder Verlag mit einem Bein in der Illegalität steht und jederzeit für irgendetwas belangt werden kann – wenn man nicht durch Beziehungen zur Bürokratie geschützt ist. Im politischen Alltag hat die „Diktatur des Gesetzes“ in eine Anarchie sich widersprechender Gesetze geführt.
Die neueste Variante dieser Entwicklung ist das föderale Gesetz über die Wahlrechtsgarantien, das im Oktober 2003 kurz vor der Wahl von der Duma verabschiedet wurde. Es wurde als Reform vorgestellt, die einen Schlammwahlkampf wie bei der letzten Duma- und Präsidentenwahl 2000 verhindern und einen fairen Wettstreit der Kandidaten ermöglichen sollte.
Faktisch führte die Formulierung einer „unzulässigen Wahlagitation“ unter dem Unterpunkt z im Artikel 48, Absatz 2 dieses Gesetzes dazu, dass zulässige und unzulässige Agitation in der Praxis nicht mehr zu unterscheiden waren. Damit waren die Medien praktisch handlungsunfähig.
Erzwungene Selbstzensur
Dieser Punkt des Gesetzes wurde nach Protesten vom Verfassungsgericht Russlands zwar noch vor den Wahlen revidiert; sogar das Informationsministerium erklärte seine Genugtuung über diesen Beschluss. Unverändert bestehen aber blieb die Pflicht der Redaktionen zur Veröffentlichung von Material, das von den Kandidaten im Rahmen ihrer Wahlwerbung einer Zeitung oder einem Sender vorgelegt wird. Daran dürfen seitens der Redaktionen keine Kürzungen oder Korrekturen vorgenommen werden. Da die Redaktionen nach dem geltenden Pressegesetz andererseits aber rechtlich verantwortlich für ihre Veröffentlichungen sind, stehen sie in der Praxis vor der Entscheidung: Veröffentlichen oder nicht. Veröffentlichen sie, handeln sie sich eventuell Beleidigungsklagen ein, lehnen sie ab, müssen sie mit Klagen von Seiten der zurückgewiesenen Kandidaten rechnen, die Strafanzeigen wegen Behinderung eines Bürgers in der Ausübung seines Wahlrechts stellen. In beiden Fällen steht die Staatsanwaltschaft bereit, einzugreifen.
Das klingt nach Rechtsstaatlichkeit, ist in seiner Inkonsequenz jedoch wiederum problematisch: Zwar werden nach dem Gesetz auch die Verfasser beleidigender, verleumderischer oder mit anderen Verboten bewehrter Agitationstexte mit Strafe bedroht, sie werden jedoch erst nach der dritten gerichtlichen Verwarnung vom Wahlkampf ausgeschlossen. Für die Redaktionen bedeuten verlorene Prozesse dagegen nicht nur empfindliche Geldstrafen, Zahlung von Schmerzensgeldern usw.; sie müssen laut Artikel 16 des Mediengesetzes schon nach der zweiten gerichtlichen Verwarnung mit einer Schließung ihrer Redaktionen rechnen.
Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass heute in Russland kaum eine Redaktion in der Lage ist, ihren Sender oder ihr Blatt durch ihre eigene Tätigkeit zu finanzieren, sondern alle – bis auf Ausnahmen, die an einer Hand abzählbar sind – entweder von Sponsoren der Wirtschaft oder von staatlichen Organen finanziert werden, so wird deutlich, dass Klagen über Einschränkungen der Pressefreiheit am Problem vorbei gehen.
Unter den Bedingungen, die sich aus der undefinierbaren Mischung von politischer Bevormundung, bürokratischer Überregulierung und wirtschaftlicher Abhängigkeit ergeben, neurussisch knapp Herrschaft der Bürokratur genannt, besteht ein wesentlicher Teil journalistischer Arbeit in Russland heute daraus, dass die Redaktionen Sorge tragen müssen, sich nicht in den juristischen Fallstricken einer wuchernden Bürokratie zu verfangen, in welcher der ökonomische Zwang auf dem Umweg über die „Diktatur der Gesetze“ exekutiert wird.
Nicht die Einschränkung vorhandener Freiheiten ist daher das Problem; das Problem ist der Zwang zur Selbstzensur, der eine selbstbestimmte Medienarbeit erst gar nicht zulässt. Russlands Medien sind bisher keine 4. Macht in einer funktionierenden Demokratie; sie sind ein Spiegel der real existierenden ökonomischen und politischen Interessen. Daran muss man sie messen.