Jüdische Journalisten: Mehr Sachkenntnis nötig

Der Journalist und Autor Lorenz Beckhardt ist Teil des Vorstands des Verbandes Jüdischer Journalisten und Journalistinnen (JJJ). Foto: WDR

Der Verband Jüdischer Journalistinnen und Journalisten (JJJ), der sich Ende vergangenen Jahres gegründet hat, vermisst eine sachliche und unabhängige Berichterstattung im Hinblick auf den Krieg im Nahen Osten. Vorstandsmitglied Lorenz Beckhardt erklärt, wie hier inzwischen der Kampf um Deutungshoheit den journalistischen Auftrag in den Hintergrund drängt und warum das ein Problem darstellt.

Herr Beckhardt, die Gründung des Verbands der jüdischen Journalisten und Journalistinnen liegt etwa ein dreiviertel Jahr zurück, wie ist die bisherige Resonanz darauf – sowohl von Kolleg*innen als auch in der Öffentlichkeit?

Um über Resonanz zu sprechen, ist es vielleicht noch etwas früh. Als einer der beiden Vorsitzenden bin ich vor allem mit dem organisatorischen Aufbau beschäftigt. Aber alle Mitglieder tauschen sich bereits regelmäßig aus, per Chatgruppe sogar täglich. Da geht es vor allem um die politischen Medien und die Berichterstattung. Größere Projekte, die wir 2026 gern umsetzen möchten, sind eine Journalistenreise zu den Orten des Massakers vom 7. Oktober 2023 und eine Journalistentagung, die Kolleginnen und Kollegen aus Israel, Deutschland, Österreich und der Schweiz versammelt. Themen zum Austausch gibt es genug.

Was schwebt Ihnen an kleineren Formaten vor?

Wir wollen Hintergrundgespräche und Fortbildungen für Kolleginnen und Kollegen zum Nahostkonflikt und zu jüdischen Themen allgemein anbieten. Ich bin sehr gespannt, ob die Kolleg*innen darauf reagieren, ob sie das interessiert. Mein Eindruck ist, dass es aktuell sehr viele Nahostexperten und Nahostexpertinnen gibt. Ständig taucht jemand neues in irgendeiner Talkshow auf. Ebenso in den sozialen Medien und auch in den professionellen Medien hat man da unfassbar viele Menschen und Kolleg*innen, die eine Meinung haben, aber leider wenig Sachkenntnis. Insofern habe ich natürlich die Hoffnung, dass Angebote, die wir machen wollen, genutzt werden. Leider scheint es mir seit dem 7. Oktober mit einem gewissen Respekt für die jüdische Perspektive definitiv vorbei zu sein, international schon lange, jetzt aber auch in Deutschland.

Geht es da auch um den Vorwurf der Einseitigkeit und der Voreingenommenheit jüdischer Kolleg*innen zu Gunsten Israels – der ja nicht grundsätzlich neu ist?

Ich kann bei den täglichen Meldungen zu Tod und Verwüstung, die uns aus Gaza erreichen – fast immer ohne Hinweis darauf, dass die Verantwortung dafür, dass es diesen Krieg gibt, zuerst einmal bei der Hamas liegt – ganz allgemein keine pro-israelische Voreingenommenheit erkennen. Auch wenn ich mehr als Zweifel daran habe, dass die Art der israelischen Kriegsführung primär und ausschließlich dem Ziel der Geiselbefreiung und der Zerschlagung der Hamas folgt. Ich bin aber kein Militärexperte und es fehlt an unabhängiger Berichterstattung. Das darf aber nicht dazu führen, dass in der Berichterstattung aus Hamas-Propaganda „palästinensische Quellen“ werden, das irgendwelche „unabhängigen NGOs“ zitiert werden, die es in Gaza schlicht nicht gibt, oder gefakte Videos medial verbreitet.

Palästinensische Bevölkerung ist nicht die Hamas

Die Bilder aus Gaza sind die schärfste Waffe der Terroristen. Da fehlt mir die journalistische Distanz vieler Kolleg*innen. Für mich als Journalist ist es undenkbar, dass ich die palästinensische Perspektive ausklammere, aber wir dürfen die Interessen der palästinensischen Bevölkerung nicht mit denen der Terrororganisation Hamas in eins setzen. Aber Sie haben recht, schon vor 30 Jahren gab es Vorbehalte gegenüber jüdischen Journalisten, wenn sie aus Nahost berichtet haben. Dabei hatten wir etwa in der ARD eine zehn Jahre währende Blütezeit im Studio Tel Aviv, als Richard C. Schneider dort Studioleiter war. Da gab es eine hervorragende, von Sachkenntnis geprägte und beiden Seiten gegenüber unvoreingenommene Berichterstattung. Schneider ist ein jüdischer Kollege, der seine Karriere nicht in Social Media begonnen hat, der weiß, wie Journalismus geht und dass es dabei nicht um Parteinahme gehen kann. Er hat aufgrund seiner eigenen Biografie den Konflikt mit seinen Widersprüchen quasi verinnerlicht. Eine solche Berichterstattung würde uns jetzt in allen Medien extrem gut tun.

Wie lassen sich die Dinge denn Ihrer Meinung nach wieder in Bewegung bringen?

Mit einer distanzierten, sachlichen Argumentation. Weder als Hamas-Propaganda-Verstärker noch als Pressesprecher der Regierung Netanjahu. Wir müssen versuchen, wieder mehr Sachkenntnis hineinzubringen. Aktuell tobt in den deutschen Medien ein Kampf um die Deutungshoheit im Nahostkonflikt.

Und da reden wir eigentlich nicht über den Konflikt, nicht über Israel und nicht über Palästina, sondern wir reden über Deutschland oder eben Österreich. Es ist ein Stellvertreterdiskurs über deutsche Befindlichkeiten, vermeintliche Schuldfragen. Erinnern Sie sich noch an den Spruch „Free Palestine from German Guilt!“, der kurz nach dem 7. Oktober auf einer Demo in Berlin auftauchte? Deutschland setzt sich immer, wenn es um Israel geht, mit sich selbst auseinander. Das ist ein psychologisch so starkes Moment und es ist mit heftigen Gefühlen verbunden, so dass wir da immer Schwierigkeiten haben, mit Fakten durchzudringen. Wenn Gefühle überwältigen, sind Erklärungen machtlos.

Fürchterliche Bilder auch als Teil von Kriegsführung

Wenn Sie immer wieder die fürchterlichen Bilder aus Gaza sehen, die zugleich Teil der Kriegsführung der Hamas sind, täglich ungeprüfte Meldungen über tote Kinder lesen, die die Israelis umgebracht hätten, dann erwacht das uralte Narrativ von den jüdischen Kindsmordritualen, das als antisemitische DNA in jedem Europäer steckt. Das geht so weit, dass mir meine Kolleg*innen berichten, dass sie keine Themen mehr zum Holocaust in den Redaktionen loswerden, weil die als Legitimation für „israelische Kriegsverbrechen“ eingestuft werden.

Ich bin als Kind von Holocaust-Überlebenden als Zeitzeuge immer mal wieder in Schulen, aber in letzter Zeit relativ selten. Auf der Lesung einer Autorin hörte ich die Erklärung, dass viele Lehrer diese Gespräche in der Schule nicht mehr führen wollen, weil sie sie als Rechtfertigung sehen für das, was Israel in Gaza macht. Da ist der Schlussstrich, den die AfD fordert, längst gezogen.

Gibt es deswegen einen Bedarf unter jüdischen Journalistinnen und Journalisten, sich in Form eines Verbandes zusammenzufinden und sich so auch untereinander eine Art von Rückhalt zu organisieren?

Es gibt einen sehr großen Bedarf. Wir haben mit acht Gründungsmitgliedern angefangen. Die Idee ist in einer Chatgruppe kurz nach dem 7. Oktober 2023 entstanden. Die Chatgruppe ist seitdem ordentlich gewachsen – auf eine mittlere zweistellige Zahl, was für jüdische Journalist*innen viel ist. Wir haben auch Mitglieder in Österreich und der Schweiz. Aber ich glaube nicht, dass wir mehr als 100 Kolleg*innen sind im deutschsprachigen Raum – rein statistisch gesehen. Es gibt nur ganz wenige, die sagen, sie treten nicht bei uns ein, weil sie zum Beispiel in der Öffentlichkeit als Journalist nicht das Etikett „Jude“ angeheftet bekommen möchten. Auch wenn wir die Mitgliedschaften natürlich nicht veröffentlichen, aus Schutz gerade für die jüngeren Kolleg*innen. Aber die meisten kommen, weil sie die Berichterstattung über Nahost und allgemein jüdische Themen schwer erträglich finden und in der Folge in den Redaktionen viel Stress erleben.

Der Sitz Ihres Verbandes ist in Frankfurt am Main, hat das auch mit anderen Akteuren dort zu tun?

Wir haben uns im Jüdischen Museum Frankfurt am 10. November 2024 gegründet. Eine logistische Basis für uns wird hoffentlich die vermutlich Ende 2025 eröffnende Jüdische Akademie werden. Ein architektonisch ansprechendes Gebäude im Frankfurter Westen, eine Institution, die mit verschiedenen Hochschulen in Deutschland verbunden ist. Dort werden wir sicher einen Teil unserer Tagungen, Seminare und Begegnungen organisieren. Frankfurt ist eine kosmopolitische Stadt und liegt einfach schön zentral.


Leserbrief zu „Jüdische Journalisten: Mehr Sachkenntnis nötig“ von Günter Herkel

Beckhardt findet, der „Kampf um Deutungshoheit“ dränge inzwischen „den journalistischen Auftrag in den Hintergrund“. Seine in diesem Interview gemachen Äußerungen bestätigen das eindrucksvoll. Lange Zeit reichte ein bloßes Schwingen der Antisemitismus-Keule aus, um aufkeimende Kritik an den offensichtlichen Menschen- und Völkerrechtsverletzungen der in Teilen rechtsextremistischen Regierung Netanjahu zum Schweigen zu bringen. Beckhardt hält an dieser Methode fest.
Als besonders perfide empfinde ich seinen Versuch, die Beschreibung und Dokumentation des realen Horrors der israelischen Besatzung in Gaza (und im Westjordanland) in eine Traditionslinie mit dem „uralten Narrativ von den jüdischen Kindsmordritualen, das als antisemitische DNA in jedem Europäer steckt“, zu stellen. Das grenzt schon an politischer Pornografie. Tatsächlich wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörden in Gaza bislang mehr als 60.000 Menschen getötet, darunter mehr als 17.000 Kinder. Daten, die von der UNO als plausibel angesehen werden.
Der von Beckhardt geäußerte Vorwurf, es seien „täglich ungeprüfte Meldungen über tote Kinder“ zu lesen, fällt auf die kriegführende Partei selbst zurück. Schließlich ist es die israelische Armee, die seit Kriegsbeginn internationalen Journalist*innen die „sachliche und unabhängige Berichterstattung“ durch Verbot der Einreise verwehrt. Es liegt der Verdacht nahe, dass eben eine solche Berichterstattung aus Gaza systematisch unterbunden und gezielt bekämpft werden soll.
Neuerdings setzen Israels Regierung und Armee Hunger als Waffe ein. Rechtsextreme Minister und Militärs erklärten öffentlich, sie kämpften gegen “menschliche Tiere“. Die Analyse dieser Politik des Aushungerns und anderer Kriegsverbrechen hat den Genozid-Spezialisten Omer Bartov zum „unausweichlichen Schluss“ kommen lassen, dass Israel Völkermord an den Palästinensern begeht. Menschenrechtsorganisationen halten den jüngsten Plan des israelischen Verteidigungsministers Katz zur Errichtung einer Konzentration von 600.000 Palästinenser*innen in einer „humanitären Stadt“ (Orwell lässt grüßen!) im Rafah-Bezirk des Gaza-Streifens im Fall der Verwirklichung für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das unter Umständen zum Völkermord ausarten könne, analysiert auch der israelische Soziologe Moshe Zuckermann.
Seit Kriegsbeginn wurden laut Reporter ohne Grenzen (RSF) bei Angriffen des israelischen Militärs mehr als 200 Medienschaffende getötet, davon mindestens 46 im Zusammenhang mit der Arbeit. (vgl. Kurzmeldung auf https://mmm.verdi.de/aktuelle-meldungen/rsf-einsatz-fuer-journalisten-in-gaza-104027) Mehrere KollegInnen wurden offenbar sogar gezielt ermordet. In diesem Zusammenhang hat RSF inzwischen beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) allein vier Strafanzeigen wegen Verdacht auf Kriegsverbrechen eingereicht.
Auch ver.di mitsamt der Deutschen Journalisten-Union hat in dieser Frage keine rühmliche Rolle gespielt. Eine eigene Gewerkschafts- bzw. Verbandsstellungnahme zu den Verbrechen an Journalist*innen in den Palästinensischen Gebieten liegt nach meiner Kenntnis bislang nicht vor. Israel-Kritik wurde auch von ver.di-Verantwortlichen lapidar mit dem Hinweis auf die „Staatsräson“ abgewehrt. Dabei wäre eine kritische Stellungnahme zu den völkerrechtlichen Verstößen Israels längst überfällig, um deutschen Medienschaffenden eine „sachliche und unabhängige Berichterstattung“ über den Krieg im Nahen Osten zu ermöglichen. Merke: Menschen- und Völkerrecht schlägt Staatsräson.
Es sei für ihn als Journalist „undenkbar“, die palästinensische Perspektive auszuklammern, behauptet Beckhardt. Tatsächlich? In diesem Interview gelingt es ihm eigentlich ganz gut. Pro-palästinensische Parteinahmen oder Empathie-Bekundungen in der deutschen Qualitätspresse hatte Israel bis vor kurzem nicht zu fürchten. Laut „Nahaufnahme 2025“ von Reporter ohne Grenzen mussten deutsche Auslandskorrespondent*innen äußerst langwierige Kontroll- und Aushandlungsprozesse zu Begriffen führen, mit denen die israelische Kriegsführung kritisiert wird. Aussagen palästinensischer Quellen und von Menschenrechtsorganisationen oder den Vereinten Nationen würden grundsätzlich in Frage gestellt – anders als solche des israelischen Militärs. Erst kürzlich versuchte der israelische Botschafter Ron Prosor, die ARD-Korrespondentin in Tel Aviv, Sophie von der Tann, als „Aktivistin“ zu diskreditieren. Die Zeiten, wo auch nur ein Anflug von Kritik mit Einschüchterung durch Vorgesetzte oder Kampagnen pro-israelischer Gruppen, gelegentlich auch mit Jobverlust bezahlt werden musste, sind jetzt aber hoffentlich vorbei. Wenn selbst der CDU-Außenminister Johann Wadephul beim Israel-Besuch anmahnt, “dass keine Politik der Vertreibung und keine Politik der aktiven Annexion betrieben wird“, dürfte die einseitige Meinungsmache zulasten der Palästinenser es künftig um einiges schwerer haben.
Es sollte hierzulande möglich sein, den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu verurteilen und sich gleichzeitig für ein Ende der Kriegsverbrechen in Gaza und im Westjordanland einzusetzen. Ver.di könnte sich ein Beispiel nehmen am kürzlich publizierten Offenen Brief an Kanzler Merz, in dem 200 Kulturschaffende sich für einen sofortigen Waffenstillstand und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe einsetzen. Ermahnungen reichten nicht mehr aus, jetzt müssten Tagen folgen. Daher fordern sie auch einen Stopp aller deutschen Waffenexporte an Israel sowie ein Aussetzen des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel.

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