Der Hessische Rundfunk wolle hr2-Kultur „in eine reine Hörfunkwelle für klassische Musik“ umwandeln, hieß es im Juli. Die Nachricht führte zu einem Hörer-Aufstand. Auch die freien hr2-Mitarbeiter*innen, die das Programm mit Wortbeiträgen füllen, sahen sich vor dem Aus. Die Belegschaft machte schnell klar: Sie selbst wollen die hr2-Kultur-Formate im Rahmen der neuen Sender-Strategie „Digital First!“ entwickeln. Nun ruderte die Geschäftsleitung teilweise zurück.
Mitten im Sommerloch, am 11. Juli 2019, lud die Geschäftsleitung des Hessischen Rundfunks zu einem „Forum“, einer Betriebsversammlung zur Neuausrichtung des gesamten Programms. Das Foyer des großen Sendesaals war voll besetzt. Intendant Manfred Krupp und andere Teilnehmer*innen einer Strategieklausur stellten ihre jüngsten Entscheidungen zum künftigen hr-Produktportfolio vor. Demnach werde der Sender seine Zukunft digital und stärker an jüngeren Nutzer*innen orientiert ausrichten – auch wenn man riskiere, ältere Zielgruppen weniger zu erreichen. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, denn die öffentlich-rechtlichen Sender müssen sich insbesondere in den Dritten Fernsehprogrammen der ARD etwas einfallen lassen, schließlich sterben ihnen die wichtigsten Zuschauer der Altersgruppe 60+ längerfristig gesehen weg.
Die breit aufgestellten Hörfunkwellen der ARD bedienen dagegen unterschiedliche Alters- und Zielgruppen, sie orientieren ihre Programmegestaltung an der Mediennutzer-Typologie. Für den hr bedeutete dies bislang: „Spaßorientierte“ hören YOU FM und „Kulturorientierte“ lauschen den Wortbeiträgen in werktäglichen hr2-Magazinen wie „Der Tag“ und „Doppelkopf“. Zusätzlich erschließen anspruchsvolle Sendungen den Hörer*innen Musikwelten jenseits des gängigen Klassikgedudels. Die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse (Agma) hat dokumentiert, hr2 erreiche damit täglich rund 100.000 Hörer*innen.
Beim ersten Forum zum Programmumbau bildete die künftige Kulturberichterstattung eines der zentralen Themen. Hörfunkdirektor Heinz Sommer verkündete, hr2 solle in eine „Klassikwelle“ umgewandelt werden, und zwar „durchhörbar“. Im Sendersprech bedeutet dies nichts anderes als eine „Entwortung“ des Programms. Die Umbaupläne drangen schnell zur Frankfurter Allgemeinen. Die FAZ mahnte dann am 16. Juli, der Kulturkanal dürfe nicht austrocknen. Christoph Hammerschmidt, Leiter der hr-Kommunikation, setzte kurz danach noch einen drauf und äußerte in „epd medien“, der Sender werde Wortinhalte zu Kulturthemen künftig vor allem über die Nachrichtenwelle hr-info, im Internet auf „hessenschau.de“ sowie in der „ARD Audiothek“ ausspielen.
Hörer entrüsteten sich. Die Online-Petition „Für den Erhalt von hr2-Kultur“ fand schnell zahlreiche Unterstützer*innen. Kulturschaffende, darunter Bodo Kirchhoff und Thea Dorn, meldeten sich kritisch zu Wort. Im August lud die Geschäftsleitung zum zweiten Forum und rechtfertigte den Umbau der Kulturberichterstattung mit der Zukunftsfähigkeit des Hessischen Rundfunks. Die hr2-Mitarbeiter*innen versammelten sich derweil und machten der Geschäftsleitung klar, dass man die Marschrichtung „Digital first!“ unterstütze. Nur wolle man „Teil der zukünftigen crossmedialen Kultur-Unit werden“, sagt hr2-Moderator Florian Schwinn. Die Beauftragung einer externen Beraterfirma für den Umbau der Kulturwelle lehne man ab. Schwinn findet es sinnvoll, dass die Kulturberichterstattung jüngere Zielgruppen erreichen soll. Nur „wer, wenn nicht wir können in entsprechenden Projektgruppen am besten den Umwandlungsprozess bestimmen und gestalten“. Außerdem seien Veränderungen in der Organisation des Senders grundsätzlich mitbestimmungspflichtig, so Schwinn.
Der Druck auf die Geschäftsleitung wurde im August immer größer. Der Personalrat wies in einem offenen Brief an den Intendanten darauf hin, dass vor dem besagten Forum nicht direkt mit den betroffenen Mitarbeiter*innen gesprochen wurde. Sie wären nun verunsichert, was ihre Beschäftigungssituation anbelangt. Der Personalrat könne diesen Ängsten nur dann sinnvoll begegnen, wenn er umfassend und frühzeitig in diesen Prozess eingebunden werde. Schließlich nahm Hörfunkdirektor Sommer laut ver.di-Senderverband im hr seine Aussagen zurück und entschuldigte sich offiziell bei der hr2-Belegschaft. Ihr wurde mitgeteilt, es werde weiterhin Wortbeiträge auf hr2 geben, die Kulturberichterstattung solle nur breiter aufgestellt werden.
Das ist sicherlich auch im Sinne des Rundfunkrats. Am 23. August erklärte der in einer Stellungnahme, die Initiative der Geschäftsleitung zur digitalen Nutzung seiner Angebote zwar zu unterstützen, wies aber darauf hin, dass die Kulturberichterstattung zum Kern des öffentlich rechtlichen Auftrags gehöre. Kultur sei „nicht nur Musik, sondern auch Literatur, die Kultur des Hörens und Zuhörens und der gesellschaftliche Diskurs.“
Nun stellt sich die Frage, ob lediglich ein Kommunikationsfehler von Seiten der Hörfunkdirektion die Aufregung verursachte und die Geschäftsleitung ihre Pläne nun präzisieren ließ. Im Flurfunk des hr kursiert eher die Lesart, der hausinterne Druck von unten und das breite Echo in der Öffentlichkeit hätten zum Zurückrudern veranlasst.
Update vom 22. Oktober 2019: Wie Deutschlandfunk Kultur berichtet, waren die Proteste offenbar zumindest in Teilen erfolgreich. Die längeren Formate in hr2 kultur seien von diesem Veränderungsprozess „erst einmal überhaupt nicht betroffen“ wird hr-Kulturredakteur Alf Mentzer zitiert. Zunächst solle bis zum Jahresende eine neue, crossmediale Kulturredaktion aufgebaut werden. „Erst in einem zweiten Schritt soll dann ‚hr2 kultur‘ reformiert werden.“