Neuer Typ Mediennutzer

40 Jahre ARD / ZDF-Langzeitstudie „Massenkommunikation“

Die ARD-ZDF-Langzeitstudie „Massenkommunikation“ ist weltweit die am längsten laufende kommunikationswissenschaftliche Studie, die den Umgang der Menschen mit den Medien untersucht. Seit nunmehr 40 Jahren weist sie jeweils in Fünf-Jahres-Wellen Veränderungen bei der Mediennutzung und im Kommunikationsverhalten aus. Die Ergebnisse der neunten Welle aus dem Jahr 2005 wurden unlängst auf einer Fachtagung in Frankfurt/Main vorgestellt.

Ein halbes Jahrhundert nach dem Siegeszug des Fernsehens gibt es mit dem Internet seit wenigen Jahren ein neues Massenmedium. Wie wird dieses neue Medium genutzt? Welchen Einfluss hat es auf die so genannten „alten“ Medien? Bleiben Fernsehen und Hörfunk weiterhin die Leitmedien der bundesdeutschen Gesellschaft? Nur einige der Fragen, mit denen sich die Forschung im Auftrag der ARD-ZDF-Medienkommission beschäftigte.
Erstaunliche zehn Stunden widmeten die Deutschen im Jahr 2005 täglich dem Medienkonsum. Das sind gut anderthalb Stunden mehr als noch vor fünf Jahren und drei mal so viel wie vor 40 Jahren, als die Forschung einsetzte. Den Löwenanteil der verfügbaren Zeit verbringen sie nach wie vor mit den klassischen Medien Hörfunk und Fernsehen. Aber auch das Internet hat sich mit 44 Minuten täglicher Nutzung längst in den Medienalltag der Bundesbürger integriert. Und zwar ohne nachteilige Folgen für andere Medien. Von einem Verdrängungswettbewerb könne „keine Rede“ sein, erläuterte Christa-Maria Ridder, Projektleiterin der Studie. Unabhängig von der ökonomischen Konkurrenz stünden die Medien in einem „komplementären Verhältnis“ zueinander. Kaum ein Medium habe an Nutzungszeit abgeben müssen durch das Aufkommen neuer Medien.
Eine Ausnahme gibt es: das alte Medium Tageszeitung verliert kontinuierlich an Wertschätzung, vor allem bei der jüngeren Generation. Seit 1970 schrumpfte die Reichweite der Tagespresse unter den über 14jährigen von 70 auf 51 Prozent. Im gleichen Zeitraum nahm die Nutzungsdauer von 35 auf 28 Minuten ab. Ein ziemlicher Absturz, vergleicht man die entsprechenden Werte von Hörfunk und Fernsehen. In den vergangenen 35 Jahren stieg der TV-Konsum von knapp zwei Stunden auf jetzt gute dreieinhalb Stunden. Hörten die Bundesdeutschen seinerzeit nur 73 Minuten Radio, schalten sie ihr Gerät inzwischen gleichfalls an die dreieinhalb Stunden ein. Zur Vervollständigung: Büchern widmen die Deutschen jeden Tag rund 25 Minuten, Zeitschriften zwölf Minuten.

Konvergenzthese widerlegt

Im direkten Leistungsvergleich öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehprogramme schneiden ARD und ZDF im Urteil des Publikums noch besser ab als vor fünf Jahren. Beim direkten Vergleich der beiden Systeme erzielen die öffentlich-rechtlichen Anstalten Bestnoten bei allen Vorgaben, die „für den kognitiven Anspruch an das Fernsehen stehen“. Sie gelten mit großem Abstand als sachlicher, glaubwürdiger, kompetenter, anspruchsvoller, informativer, kritischer und aktueller als die Privaten. Dagegen werden die Privaten als unterhaltsamer, mutiger, lockerer, vielseitiger und moderner bewertet.
Schon aus diesem Grund hat die vielfach geäußerte These von der allmählichen Konvergenz beider Systeme für HR-Intendant Helmut Reitze, stellvertretender Vorsitzender der ARD / ZDF-Medienkommission, nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Er verwies auf den „Info-Monitor“, der täglich die Inhalte der wichtigsten Nachrichtensendungen der großen TV-Sender analysiere. Die Ergebnisse widerlegten Kritiker, die auch den Informationssendungen der öffentlich-rechtlichen Anstalten eine Tendenz zur Verflachung und zu mehr Boulevard unterstellten. Laut „Info-Monitor“ liege in „Heute“ und in der „Tagesschau“, in den „Tagesthemen“ als auch im „Heute-Journal“ der Politik-Anteil bei 50 Prozent. Demgegenüber bewegten sich die Politik- und Wirtschaftsanteile in den News-Shows von Sat.1 und RTL um die 20 Prozent.
Auch aufgrund der hohen Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die politische Meinungsbildung, so folgerte Reitze, müssten  ARD und ZDF künftig alle neuen mobilen und digitalen Vertriebswege offen stehen. In diesem Zusammenhang forderte er auch, die im Rundfunk-Staatsvertrag festgelegte Obergrenze für die Internet-Aufwendungen von ARD und ZDF abzuschaffen. Laut Staatsvertrag dürfen ARD und ZDF nicht mehr als 0,75 Prozent ihrer Ausgaben in Online-Angebote investieren. Diese „finanzielle Deckelung“ beeinträchtige die Entwicklungsgarantie für die Öffentlich-Rechtlichen. Reitzes Forderung rief die hierzulande üblichen Reflexe hervor. Konservative Medienpolitiker und der Privatfunkverband VPRT protestierten prompt gegen die geplante „Online-Expansion“ von ARD und ZDF.
Die Zeiten, da Hörfunk und Fernsehen eine gesellschaftliche Integrationsfunktion ausübten, sind in der digitalen Ära offenbar definitiv passé. Die Angebotsvielfalt wächst ins Unüberschaubare. Die Möglichkeit, Medien zeit- und ortsunabhängig zu konsumieren, bringt einen neuen Mediennutzertyp hervor. Birgit van Eimeren, Leiterin der Medienforschung beim Bayerischen Rundfunk, prognostizierte den Übergang vom Broadcaster zum „Ego-Caster“. Künftig werde es nach Auffassung der „digitalen Propheten“ kaum noch Medienkonsumenten geben, die Fernsehen und Hörfunk „linear“ nutzten. Vielmehr werde sich jeder je nach Gusto und Zeitbudget sein Programm selbst „komponieren“ und sein eigener Programmdirektor werden.
Voran getrieben wird diese Entwicklung vor allem von den so genannten „Trendsettern“. Als solche begreifen die Kommunikationsforscher Medienjunkies, die im Vergleich zur Bevölkerungsmehrheit überdurchschnittlich viele moderne Medien nutzen. Bernhard Engel von der ZDF-Medienforschung, verweist auf die Ausstattung der „Trendsetter“-Haushalte mit Personal Video Rekordern, mit drahtlosen Netzwerken oder DSL, im Audio-Bereich mit digitalen Surround-Anlagen oder beim Fernsehen auch noch mit Flachbildschirmen. Bei dieser Bevölkerungsgruppe ist der Anteil nicht-linearen Medienkonsums – etwa das zeitversetzte Kucken der „Tagesschau“ oder die Nutzung von MP3-Playern und iPods bereits recht hoch. Stefan Jenzowsky, Kommunikationsstratege der Siemens AG, reichte dieser pragmatische Ansatz nicht aus. Er interessiert sich für konkrete Veränderungen im Nutzungsverhalten der Trendsetter. Etwas solche, „die blogs nutzen, die blogs selber schreiben, die iPods zum Podcasten selbst nutzen“. Diese in der Regel recht jungen Menschen wiesen ein völlig verändertes Profil der Mediennutzung auf. Für diese Gruppe habe der Umgang mit Medien viel mit „Do it yourself!“, mit „selbst die Medien gestalten“ zu tun. Ältere Leser werden sich erinnern: Bertolt Brecht träumte einst von einem Rundfunk, der sich aus einem reinen Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat verwandelt. In fünf Jahren lässt sich vielleicht überprüfen, ob die Erfüllung dieses Traums näher rückt. Dann erscheint das nächste Kapitel der ARD-ZDF-Langzeitstudie.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Erneute Streiks bei NDR, WDR, BR, SWR 

Voraussichtlich bis Freitag werden Streiks in mehreren ARD-Sendern zu Programmänderungen, Ausfällen und einem deutlich veränderten Erscheinungsbild von Radio- und TV-Sendungen auch im Ersten Programm führen. Der Grund für den erneuten Streik bei den großen ARD-Rundfunkanstalten ist ein bereits im siebten Monat nach Ende des vorhergehenden Tarifabschlusses immer noch andauernder Tarifkonflikt.
mehr »

Schutz vor zu viel Stress im Job

Immer weiter, immer schneller, immer innovativer – um im digitalen Wandel mithalten zu können, müssen einzelne Journalist*innen wie auch ganze Medienhäuser sich scheinbar ständig neu erfinden, die Belastungsgrenzen höher setzen, die Effizienz steigern. Der zunehmende Anteil und auch Erfolg von KI-basierten Produkten und Angeboten ist dabei nur das letzte Glied in der Kette einer noch nicht abgeschlossenen Transformation, deren Ausgang vollkommen unklar ist.
mehr »

Für eine Handvoll Dollar

Jahrzehntelang konnten sich Produktionsfirmen auf die Bereitschaft der Filmschaffenden zur Selbstausbeutung verlassen. Doch der Glanz ist verblasst. Die Arbeitsbedingungen am Set sind mit dem Wunsch vieler Menschen nach einer gesunden Work-Life-Balance nicht vereinbar. Nachwuchsmangel ist die Folge. Unternehmen wollen dieses Problem nun mit Hilfe verschiedener Initiativen lösen.
mehr »

Tarifverhandlungen für Zeitungsjournalist*innen

Bereits Ende Mai haben die Tarifverhandlungen zwischen der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di und dem Zeitungsverlegerverband BDZV begonnen. Darin kommen neben Gehalts- und Honorarforderungen erstmals auch Regelungen zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) zur Sprache.
mehr »