Dokumentarfilmer mit Dumping-Löhnen

Umfrage offenbart erschreckende Produktions- und Einkommenssituation

Die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG DOK) legte am 25. Oktober in Berlin das Ergebnis einer repräsentativen Studie zur Arbeits- und Einkommenssituation von Dokumentarfilmern vor. 85 Prozent der Befragten geben darin an, nicht von ihrem Beruf als Autor oder Regisseur leben zu können. Viele von ihnen müssen in berufsfremden Jobs Geld hinzuverdienen, andere werden von ihren Angehörigen finanziell unterstützt. Das Ergebnis belegt einmal mehr die verheerende wirtschaftliche Situation der Dokfilmer.

Alice Agneskirchner, Regisseurin und 2. Vorsitzende der AG DOK, hatte im Laufe des letzten Jahres festgestellt, dass es bei Gesprächen mit Kollegen zunehmend weniger um Form und Inhalte von Filmprojekten ging. Themen waren vielmehr klaffende Finanzierungslücken, schlechte Produktionsbedingungen und mangelnde Aufträge, um Projekte überhaupt durchführen zu können. „Viele meiner Freunde und Bekannten klagten heftig über ihre Situation, in der sie z.B. wegen Sparmaßnahmen bei den Sendern überhaupt nicht mehr zum Arbeiten kamen“, sagte Agneskirchner in Berlin. „Ich habe mich dann gefragt, jammern die alle auf hohem Niveau? Oder ist wirklich etwas dran an der Misere?“
AG Dok_LogoZusammen mit der Beratungsfirma Langer Consulting führte Agneskirchner im Auftrag der AG DOK eine empirische Befragung unter allen 870 Verbandsmitgliedern durch. Der Fragebogen zielte auf die berufliche und wirtschaftliche Situation der Autoren und Regisseure, die dokumentarische Fernsehformate in Deutschland realisieren. 94 Personen beteiligten sich an der Umfrage, die von März bis Juni 2012 dauerte, das sind 13,4 % der insgesamt in Frage kommenden Personen. Die Befragung bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil befasste sich mit der allgemeinen beruflichen Situation, der zweite Teil mit den Herstellungsbedingungen einzelner Produktionen, die von den Teilnehmern selbst ausgewählt werden konnten. Alle Fragen bezogen sich auf die Produktions- und Einkommenssituation der Jahre 2008 bis 2010.
Jetzt, da die Auswertung schwarz auf weiß vorliegt, zeigte sich Agneskirchner tief betroffen. Sie habe mit allem gerechnet, nur nicht mit diesem verheerenden Ergebnis, sagte sie. Die Erkenntnisse der von Jörg Langer wissenschaftlich begleiteten und ausgewerteten Studie sind in der Tat erschreckend. Demnach arbeiten freiberufliche Dokumentarfilm-Autoren und Regisseure im Schnitt 82 Tage im Jahr ohne Bezahlung. Bei Zugrundelegung einer 5-Tage-Woche sind das knapp viereinhalb Monate, die sie mit unbezahlter Recherche und Projektentwicklungsmaßnahmen verbringen. Selbst, wenn ein auf diese Weise entwickeltes Projekt in die Produktion geht, werden die Kosten der Entwicklung in der Regel gar nicht oder nur teilweise erstattet. Hinzu kommt eine wachsende Belastung durch Aufgaben, die nichts mit der Regietätigkeit zu tun haben – zum Beispiel das Organisieren von Drehgenehmigungen, die Rechteabklärung mit den Protagonisten oder sogar Verhandlungen über die Nutzungsrechte der von ihnen verwendeten Filmarchivaufnahmen.
Da es für freiberufliche Autorentätigkeit und Regiearbeit keine Tarifverträge gibt, rechnet die Studie den Zeitaufwand für die Realisation von Dokumentarfilmen und Dokumentationen verschiedener Längen auf die dafür gezahlte Pauschalvergütung um. Unter Einbeziehung der besonders arbeitsintensiven, programmfüllenden 90-Minuten-Filme ergibt sich dabei im Durchschnitt aller untersuchten Projekte eine Tagesgage von 99 Euro, oder bei Berücksichtigung der branchenüblichen Arbeitszeit, ein Stundensatz von 9,91 Euro – brutto! Schon als reine Arbeitszeitvergütung wäre das ein Dumping-Lohn, doch Sendeanstalten erwarten von den Filmern zudem, dass die Vergütungen für die Nutzung von Urheberrechten in solche Beträge bereits hineingerechnet sind. Auch bei der separaten Betrachtung reiner Fernseh-Projekte von 30 oder 45 Minuten Länge kommt man auf Tagesgagen, die deutlich unter denen der Kameraleute, Cutter und Produktionsleiter liegen.
„Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass die Regisseure, die ja die Gesamtverantwortung für die inhaltliche Richtigkeit sowie für die termingerechte Fertigstellung eines Filmes tragen, nicht weniger verdienen, als alle anderen Beteiligten an der Produktion“, sagte Alice Agneskirchner. Solange diese Schieflage nicht beseitigt sei, könne von den im Rundfunkstaatsvertrag geforderten „fairen Vertragsbedingungen“ und von einer „angemessenen Vergütung“ der Dokumentarfilm-Urheber keine Rede sein.
Verantwortlich für diese Situation sind nach Ansicht der AG DOK vor allem die Sparbestrebungen der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, die zwar Unsummen in Sportrechte, Unterhaltungsprogramme und Talkshows investieren, dabei aber ihre Kernkompetenz – die anspruchsvolle Dokumentation – zunehmend vernachlässigen und finanziell austrocknen.
„Bei solchen Zahlen versteht man, warum rund 70 Prozent unserer Kolleginnen und Kollegen ihre berufliche Perspektive „negativ“ oder sogar „sehr negativ“ sehen“, fasst die Berliner Regisseurin Alice Agneskirchner die Resultate der Studie zusammen. Sie findet es „fahrlässig, dass die Film- und Fernsehbranche den Absolventen der vielen Filmhochschulen keine Perspektive bietet, die dem Aufwand und den Kosten dieser Ausbildung angemessen ist.“

 

Zum downloaden der Studie:
www.agdok.de/de_DE/press/177091/hpg_detail

Weitere aktuelle Beiträge

Wie ähnlich ist presseähnlich?

Der Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), Ralf Ludwig, erwartet, dass es für die öffentlich-rechtlichen Sender künftig schwerer werde, insbesondere jüngere Zielgruppen online zu erreichen. Grund dafür sei die „Schärfung des sogenannten Verbots der Presseähnlichkeit“, sagte Ludwig Ende Mai im Medienausschuss des sächsischen Landtags.
mehr »

ARD-Nachrichtentag: Mehr Transparenz

Nachrichten sind das Herz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sie sollen gut recherchiert und aufbereitet sein, sollen verständlich Ereignisse vermitteln und einordnen. Beim ARD-Nachrichtentag am 5. Juni gab es einen offenen Einblick, wie das eigentlich geschieht. Teilnehmende bekommen Einblicke in den journalistischen Alltag und erfahren den Wert unabhängiger Nachrichten in Hörfunk, Fernsehen und Social Media.
mehr »

Altersversorgung für Filmschaffende

Zusammen mit der Schauspielgewerkschaft BFFS und dem Tarifpartner Produktionsallianz hat ver.di einen Tarifvertrag für eine branchenweite betriebliche Altersversorgung für Filmschaffende in Film- und Serienproduktionen abgeschlossen. Für die etwa 25.000 auf Projektdauer beschäftigten Film- und Fernsehschaffenden vor und hinter der Kamera wird die neue tarifliche Altersvorsorge ab Juli 2025 starten.
mehr »

Was tun gegen defekte Debatten

Das Land steckt in der Krise und mit ihm die Diskussionskultur. Themen wie Krieg und Pandemie, Migration und Rechtsextremismus polarisieren die politische Öffentlichkeit. In ihrem Buch „Defekte Debatten: Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen“ suchen Julia Reuschenbach, Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin und Korbinian Frenzel, Journalist und Redaktionsleiter Prime Time bei Deutschlandfunk Kultur, nach Auswegen aus der diskursiven Sackgasse.
mehr »