Schnellkurs Streiken für Anfänger

Tarifrunde öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Ja, richtig: Wenn Sie dieses Heft in den Händen halten, ist die Tarifrunde 2000 für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wahrscheinlich immer noch nicht abgeschlossen. Aber die Intendanten haben mit ihrer Idee, die Gehaltserhöhung von Einschnitten bei der Altersversorgung abhängig zu machen, für Bewegung in den Anstalten gesorgt. Bisher bekamen die Beschäftigten zwar keinen Ausgleich für die Preissteigerungen – aber dafür einen Schnellkurs Streiken für Anfänger.

1. Stunde: Augenreiben

Lange war den Mitgliedern der Tarifkommissionen überhaupt nicht klar, was da beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor sich ging. Waren doch Gehaltstarifrunden bis dato in der Regel ein Ritual, das sich auf das Verzehren der gereichten Schnittchen und das zügige Unterzeichnen eines möglichst ötv-gleichen Abschlusses beschränkte. Hier und da gelang es besonders aufmüpfigen Verhandlungskommissionen schon einmal, „soziale Komponenten“ in Form einer Einmalzahlung durchzusetzen.

Nun aber wollten die Intendanten doppelt kassieren: Nämlich die bereits 1994 abgebaute Altersversorgung gleich nochmals auf den Tariftisch bringen und nun auch die geschlossenen, alten Versorgungsordnungen angehen (siehe M 1-2/2001). Verbunden damit war eine Tariferpressung erster Güte: Gehaltserhöhung für alle gibt’s erst, wenn die Bereitschaft zur Veränderung der Versorgungswerke erklärt wird. Einige Tarifkommissionen vertagten sich erfolgreich, andere verlegten sich darauf, die Situation anhaltend zu beraten – im Ergebnis dämmerte den Gewerkschaftern aber, dass es angesichts dieser Haltung der Arbeitgeber mit dem üblichen Ritual nicht getan sein würde. Und irgendwann fiel auch das kurze, deutliche Wort Streik.

2. Stunde: Information

Nun muss man wissen, dass „Streik“ seit dem nicht sehr erfolgreichen Versuch, 1979 einen Streik gegen die Kündigung des NDR-Staatsvertrages in Szene zu setzen, bei den Gewerkschaftern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eher gemischte Gefühle weckt. Die gängige Ansicht war, dass man das zwar dürfe, es aber nicht sonderlich aussichtsreich erscheine, weil – tja warum? Das war eben so ein Erfahrungssatz…

Beim WDR, dessen Ruf als „Rotfunk“ längst verblasst ist, war man sich ebenso unschlüssig wie in den anderen Sendern. Doch die Erkenntnis wuchs: Wenn der Arbeitgeber die notwendige Gehaltserhöhung nicht zugesteht, dann muss eine richtige Gewerkschaft irgendwann mit Streik antworten.

Dies schien bei einem Thema wie der Altersversorgung und ihrer erpresserischen Verknüpfung mit der Gehaltsrunde allerdings schwierig, weil relativ schwer verständlich.

Die Versuche des WDR-Verwaltungsdirektors Seidel, den Sachverhalt zu erläutern, hatte nur ein Ergebnis: Die Beschäftigten verstanden, dass er die Altersversorgung verändern will. Und sie ahnten, dass dies nicht zu ihren Gunsten geschehen sollte.

Zahlreiche Veröffentlichungen von Gewerkschaften und Personalrat schafften es dann doch, den Beschäftigten die Zusammenhänge zu verdeutlichen.

Die Personalversammlung am 16. Januar tat ein übriges: Es wurde deutlich, dass die Angestellten die Veränderung der Altersversorgung nicht hinnehmen werden, dass sie ihre Gehaltserhöhung einfordern und für das erpresserische Vorgehen der Geschäftsleitung kein Verständnis aufbringen.

3. Stunde: Wer, Wie, Wo, Wann?

Nachdem auch ein letztes Ultimatum Ende Januar verstrich, führte an Warnstreiks kein Weg mehr vorbei.

Die Gewerkschafter beim WDR kramten in ihren Erfahrungen und holten sich Hilfe.

Klar war: Streiks, die nur darauf abzielen, Sendungen ausfallen zu lassen, sind wenig sinnvoll und werden auch von den Kolleginnen und Kollegen nicht mitgetragen. Am Ende muss ein einzelner Kollege oder eine einzelne Kollegin den „Hahn“ zuziehen, um den Lautsprecher verstummen zu lassen. Und selbst dann gibt es noch -zig Möglichkeiten, dennoch mindestens ein Musikprogramm zu senden.

Das Ziel der ersten Warnstreiks sollten deshalb nicht die sicht- oder hörbaren Auswirkungen sein, sondern die solidarische Demonstration einer möglichst vielfältigen Gruppe von Beschäftigten. Die Schwelle, sich an den Streiks zu beteiligen, sollte erst einmal möglichst niedrig gehängt werden – und doch sollten von Anfang an Verwaltung, Technik und Programm beteiligt sein.

Aus der Erfahrung des ersten Streiks beim WDR, mit dem 1999 ein Tarifvertrag für die outgesourcte Gebäudetochter erreicht wurde, wusste man, dass es entscheidend darauf ankommt, die Kolleginnen und Kollegen vom Arbeitsplatz weg zu lotsen. Wer erst einmal in sein Büro gegangen ist, der erklärt sich zwar häufig solidarisch – aber es ist sehr schwer, sie oder ihn dann noch zum Streiken zu überreden.

Also beschloss das „Streikkomitee“, möglichst komplette Gebäude zum Warnstreik aufzurufen und achtete darauf, dass die Zugänge durch Streikposten besetzt werden konnten.

Nach langen Beratungen einigte sich das Komitee darauf, die Beschäftigten in zwei Häusern zum Streik aufzurufen. Das EDV-Haus des WDR beherbergt Büros für die EDV-Abteilung, aber auch die zentrale Poststelle, die für die Verteilung der Hauspost und die Annahme von Sendungen zuständig ist. Ebenfalls streiken sollten die Kolleginnen und Kollegen des Vierscheibenhauses, in dem verschiedene Redaktionen und Teile der Verwaltung untergebracht sind.

4. Stunde: Streiken – darf man das eigentlich?

Die Warnstreiks beim WDR wurden durch zahlreiche Flugblätter vorbereitet. Im Mittelpunkt immer wieder die Frage: Darf man als Beschäftigter beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk streiken – und darf man auch dann am Streik teilnehmen, wenn man nicht in einer Gewerkschaft organisiert ist?

Das – und natürlich immer wieder die zentralen Fragen der Auseinandersetzung um Gehalt und Altersversorgung – erläuterten die aktiven Gewerkschafter in zahllosen Gesprächen. Das war der entscheidende Schritt, um die Beschäftigten für die Streikaktionen zu gewinnen: Die Überzeugungsarbeit von Büro-türe zu Bürotüre.

Beim WDR beteiligten sich ganz selbstverständlich auch die freigestellten Personalräte, die Mitglieder des Tarifausschusses und natürlich die Verbandsgruppensprecher an der Vorbereitung. Dabei gingen sie ganz bewusst nicht nur in diejenigen Betriebsbereiche, die als nächste zum Streik aufgerufen waren, sondern jeweils auch in einige andere. Denn die Aufklärungs-arbeit blieb den Vorgesetzten und damit der Geschäftsleitung natürlich nicht verborgen.

5. Stunde: Wer streiken will, muss früh aufstehen

Es kam bei der Durchführung des Streiks entscheidend darauf an, schon die ersten Kolleginnen und Kollegen, die um sechs Uhr in der Poststelle die Arbeit aufnehmen sollten, mit einer möglichst großen Menge Mitarbeitern als Streikposten in Empfang zu nehmen – sie zu überzeugen, nicht an den Arbeitsplatz zu gehen und ihnen die Sicherheit einer relativ großen Menge von Mitstreitern zu geben.

„Früh aufstehen“ hieß also die Parole – und so schwirrte das IG Medien-Büro ab halb sechs Uhr vor Aktivität.

Etwa zwanzig Streikposten, ausgestattet mit „Streiktüten“ zum Überziehen, Flugblättern, Transparenten und Gewerkschaftsmützen, besetzten die Eingänge und verwickelten die ersten eintreffenden Kollegen der Poststelle in Diskussionen. Ganz wichtig war dabei – auch angesichts der mäßigen Temperaturen – der heiße Kaffee und wenig später die belegten Brötchen, denn damit diskutiert und streikt es sich schon sehr viel entspannter…

Nun zeigte sich auch, wie nötig ein solcher „Schnellkurs Streiken“ für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk war: Als nämlich die ersten Angestellten der EDV-Abteilung eintrafen – die natürlich „ganz wichtige Termine“ hatten – ja, klar waren sie solidarisch – nur einmal schnell nach oben mussten sie, die E-Mails überprüfen…

Streiken heißt: nicht arbeiten. Es heißt: Das Telefon ist tatsächlich nicht besetzt. Die Arbeit bleibt liegen. Es ist keiner da, das Meeting fällt aus, der Abteilungsleiter bekommt keinen Kaffee, die Post wird nicht verteilt…

Viel Einfühlungsvermögen war notwendig – hartnäckig, aber nicht aufdringlich mussten die Streikposten diskutieren – denn schließlich kann man erwachsene Menschen nicht zum Streiken zwingen – aber man kann ihnen erklären und sie mit ein ganz klein wenig moralischem Druck auch davon überzeugen, dass der Streik nicht irgendwann richtig und notwendig ist, sondern heute morgen – und dass natürlich jeder, der jetzt an seinen Arbeitsplatz geht, ein Streikbrecher ist…

Die Beschäftigten im Vierscheibenhaus des WDR konnten nicht an den Zugängen abgefangen werden. Hier liefen die Streikposten wieder und wieder durch die Stockwerke und be-mühten sich, jeden einzelnen Kollegen und jede einzelne Kollegin davon zu überzeugen, sich dem Streik anzuschließen. Das war ungleich schwerer, gelang aber mit einiger Hartnäckigkeit auch.

6. Stunde: Ein Warnstreik hat einen Anfang und ein Ende

… und dazwischen muss etwas passieren, denn nichts lässt einen Warnstreik schneller bröckeln, als kalte Füße und Langeweile.

Die Gespräche vor den Eingängen – mit Kaffee und Brötchen – waren schon eine gute Sache. Es zeigte sich aber, dass es wichtig ist, besonders bei dem Demonstrationscharakter der Warnstreiks, zu einer Abschlusskundgebung aufzufordern. Und so war denn der Abschluss des ersten Streiktages im WDR für die beteiligten Gewerkschafter auch so etwas wie eine erste „Zwischenprüfung“ beim „Schnellkurs Streiken für Anfänger“: Die große Mehrzahl der Beschäftigten beteiligten sich an der Kundgebung in den WDR-Arkaden, dem Sitz der Geschäftsleitung.

Eine Presseerklärung informierte die Öffentlichkeit und eine E-Mail die übrigen Beschäftigten über den Streik.

7. Stunde: Streiken geht, macht aber viel Arbeit!

Nachdem der erste Warnstreik erfolgreich verlaufen war, mussten unmittelbar weitere geplant und vorbereitet werden.

Nun zeigte sich, dass Streiken eine Heidenarbeit ist. Genaue Pläne sind notwendig, man muss den Ablauf durchdenken, und vor allem genügend Aktive für die Durchführung mobilisieren. Entscheidend aber ist der Zeitfaktor: Es reicht nicht aus, nach einem Streik den nächsten mal ganz langsam anzugehen.

Und es zeigten sich die Schwä-chen der ehrenamtlichen Organisation im Senderverband: Es fehlen Vertrauensleute in den einzelnen Abteilungen, Aktive unterhalb der Ebene des Vorstandes, die solche Aktionen mit tragen und die Stimmungslage der einzelnen Bereiche kennen. Die wenigen Verbandsgruppensprecher können das nicht ausgleichen.

Auch die ehrenamtlichen Entscheidungsgremien können nicht ständig zusammentreten. Deshalb ist die Unterstützung und Führung solcher Streikaktionen durch hauptamtliche Gewerkschafter unerlässlich.

Streiken – Aufbaukurse…

Die Erfahrungen mit der – für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk neuen – Form der Gewerkschaftsarbeit waren erstaunlich: Am 16. Februar war ein etwas abseits gelegenes Gebäude zum Warnstreik aufgerufen. Hier arbeiten die Mitarbeiter der Holi, der Revision, der Finanzverwaltung, der Öffentlichkeitsarbeit – und der Personalabteilung. Und tatsächlich beteiligten sich die Kolleginnen und Kollegen solidarisch an der Aktion (erste Fotos bereits in M 3/2001).

Schwieriger wurde es am 9.3., als erstmals drei Gebäude mit ProgrammmitarbeiterInnen zum Warnstreik aufgerufen waren. Für viele von ihnen ist es undenkbar zu streiken. Ein hartes Brot für die Streikposten…

Mittlerweile allerdings hat das Streiken schon Tradition – und das nicht nur beim WDR. Deutschlandfunk und Deutsche Welle streikten am 1. März erfolgreich für einige Stunden. Der Bayerische Rundfunk hat bereits zweimal gestreikt, zuletzt am 13. März im Betriebsteil Freimann. Und auch die Kolleginnen und Kollegen beim NDR zeigten, dass Streiken beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk kein Tabu mehr ist.

Schuss nach hinten …

Das sogenannte „Junktim“ der ARD-Intendanten, die Verknüpfung von Altersversorgung und Gehaltstarifrunde entwickelt sich zu einem klassischen Schuss nach hinten:

Statt die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen, haben die Intendanten sie bei der Ehre gepackt und es erfolgreich verstanden, ein jahrzehntelanges Tabu endlich zu brechen. Sie haben es geschafft, dass die – nun wirklich als friedlich bekannten – Beschäftigten bei den Sendern der ARD (und bald auch des ZDF?) in den Streik getreten sind.

Nun verlangen beispielsweise beim WDR die Beschäftigten selbst, über „erste Warnstreiks“ hinauszugehen.

Es ist kein Wunder, dass einer der beteiligten Verwaltungsdirektoren „Junktim“ gequält als das „Unwort des Jahres“ bezeichnete.

Jetzt ist es an den Arbeitgebern, sich aus der selbst gewählten Sackgasse hinaus zu bewegen. Die IG Medien muss – auch in ver.di -nicht erst beweisen, dass sie das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gegen alle möglichen Angriffe verteidigt. Sie war in der Vergangenheit häufig genug bereit, Zugeständnisse zur politischen Unterstützung der Anstalten zu machen. Sie kann, will und wird sich eine solche Erpressung von Seiten der Intendanten nicht gefallen lassen.

Wenn die Intendanten unbedingt wollen, starten die Senderverbände sicherlich auch noch den Kursus „Streiken für Fortgeschrittene“ und beantragen hierzu die Urabstimmung …

 

 

 

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