Das Blutbad im ersten Satz

Nachrichtenagentur-Journalisten: Zwischen Zeitdruck und journalistischem Anspruch

„… Agenturjournalisten sind immer auf dem Sprung. Sie bilden in der Journalistenkaste eine Spezies für sich; vermutlich haben sie einen anderen Blutkreislauf, ein anderes Nervensystem und eine andere Gehirnstruktur als alle übrigen Reporter. Das kommt daher, daß sie in ihrem ganzen Berufsleben nur kurze Aussagesätze schreiben und immer so, daß man die hinteren auch wegstreichen kann. Dafür sind sie privat meist redselige Sprachspieler. Außerdem sind sie immer auf dem Sprung, denn schneller zu sein als die Konkurrenz, ist bei Ihnen nicht eine Sache von Wochen, Tagen oder Stunden, sondern von Minuten oder gar Sekunden. Dafür besitzen sie oft ein erstaunliches Phlegma – im Gegensatz etwa zu den permanent panischen Leuten vom Fernsehen …“, schrieb Burkhard Müller-Ullrich am 28. September 1996 in der Süddeutschen Zeitung.

Diese Spezies kam auf dem Journalistentag in einer Arbeitsgruppe zusammen und traf dort auf Kolleginnen und Kollegen von Tageszeitungen und Rundfunkanstalten. Stilecht faßte die Arbeitsgruppe ihr Ergebnis in einer Meldung zusammen…

Köln (30. November 1996) – Nachrichtenjournalisten aus der ganzen Bundesrepublik haben am Samstag in Köln über ihre Arbeitsbedingungen diskutiert. Der Zwang zur Aktualität und Originalität werde wie eine Monstranz vor sich hergetragen, kritisierte die Runde einstimmig. Insbesondere die personelle und technische Ausstattung in den Redaktionen von Agenturen und Zeitungen und elektronischer Medien führten zunehmend zu einer Arbeitsverdichtung, die gründliche Recherche zunehmend erschwere oder sogar unmöglich mache. Andererseits seien Redaktionen den Agenturen hörig. „Ein Ereignis, das nicht durch eine Nachrichtenagentur bestätigt wird, ist kein Ereignis“, sagte eine Teilnehmerin wörtlich.

Die Journalisten forderten Strategien ein, um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Außerdem müsse jeder einzelne Rückgrat zeigen und vermeintliche Zwänge hinterfragen.Daß die nachrichtenverarbeitenden Kollegen bei den Zeitungen gegen die nachrichtenschreibenden Kolleginnen bei den Agenturen ausgespielt werden, war ein weiterer Punkt der Diskussion. So heißt es für die Redakteure der Agenturen immer häufiger: Die Kunden wollen aber rund geschriebene Geschichten, die 1:1 übernommen werden können. Kollegen von den Tageszeitungen wiesen darauf hin, daß mit direkt übernehmbaren Artikeln einem Arbeitsplatzabbau in den Zeitungsredaktionen Vorschub geleistet werde.

Auch über den starken Einfluß der Wirtschaft und die Schwierigkeit, mit einer seriösen Berichterstattung einen guten Abdruck zu erzielen, wurde diskutiert. „Wenn da nicht ,Blutbad‘ im ersten Satz steht und die anderen Agenturen schreiben das, dann bist Du raus“, kommentierte einer der Teilnehmer. Beklagt wurde insgesamt die Entwicklung, bei der Geschichten häufig aus vermeintlichem Konkurrenzdruck überdreht werden.

Breiten Raum nahm der Austausch der Kolleginnen und Kollegen ein. Dabei wurden auch einige Beispiele dafür gebracht, wie von Kollegen Themen zu Ereignissen gepuscht werden, für deren Berichterstattung eigentlich objektive Kriterien nicht mehr gelten. Gerügt wurde von den Tageszeitungskollegen der Original-Text-Service – ots, der im Basisdienst von dpa mitläuft. Dadurch würden im Basisdienst die Meldungen der Agentur und kommerzielle Unternehmensmeldungen vermengt.Kolleginnen und Kollegen äußerten den Wunsch, die Diskussion fortzusetzen.

 

Weitere aktuelle Beiträge

Sicher ist sicher: Eigene Adressen sperren

Journalist*innen sind in den vergangenen Jahren vermehrt zum Ziel rechter Angriffe geworden. Die Zahl tätlicher Übergriffe erreichte 2024 einen Rekordwert, so eine aktuelle Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig. Die Autoren benennen die extreme Rechte als strukturell größte Bedrohung für die Pressefreiheit. Einschüchterungen oder sogar körperliche Übergriffe geschehen mitunter direkt an der eigenen Haustür. Den damit verbundenen Eingriff in das Privatleben empfinden Betroffene als besonders belastend.
mehr »

Internet: Journalismus unter Druck

Angesichts der Vielzahl von Beiträgen zum 30-jährigen Jubiläum des Internets arbeitet der Journalist Jann-Luca Künßberg in einem Gastbeitrag für Netzpolitik.org heraus, wie umfangreich die Online-Welt Journalismus selbst verändert hat. Enorm schnell, so Künßberg, habe der Geschäftsgedanke die Vision eines digitalen Versammlungsorts beiseitegeschoben.
mehr »

DGB-Preis: Highlight bei Filmfestival im Norden

Der Bürgermeister von Emden wählte große Worte. „Manche behaupten ja, Emden sei das Cannes des Nordens“, sagte Tim Kruithoff bei der Preisverleihung des 35. Filmfests Emden-Norderney. Für die 21 000 Besucher*innen war das Festival auf jeden Fall ein bemerkenswertes Event.
mehr »

Rechtes Rauschen im Blätterwald

Ob Neuerscheinungen, Zusammenlegungen, Relaunches oder altgediente rechte Verlage: Was die Periodika der Neuen Rechten, ihrer Parteien, Organisationen oder auch einflussreicher kleinerer Kreise anbetrifft, lässt sich gerade angesichts des rechtspopulistischen Aufschwungs der letzten etwa 20 Jahre viel Bewegung ausmachen.
mehr »