Fachtagung von IG Medien und DPG zu „Multimedia und Arbeitswelt“
Dem „Mißverhältnis zwischen öffentlicher Debatte und täglicher Realität in den Betrieben“ wollte, so Detlef Hensche, die zweite gemeinsame Fachtagung von IG Medien und DPG zu den ökonomischen, sozialen, arbeitsrechtlichen, gesellschaftspolitischen und gewerkschaftlichen Auswirkungen der digitalen Revolution entgegenwirken. Folgerichtiger Titel: „Multimedia und Arbeitswelt“.
Die mit hochkarätigen Vertreter/innen aus Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften besetzte zweitägige Tagung (45 Referenten, Moderatoren, Observer, Podiumsdiskutanten, darunter acht Frauen) widmete sich Qualifikations- und Berufsfeldentwicklungen, Arbeitsbedingungen, Arbeitsorganisation und Gesundheitsschutz, Beschäftigungsformen und Arbeitsrecht, neuen Management- und Rationalisierungsstrategien angesichts der neuen Informationsund Kommunikationstechnologien.
Die „gewisse Melancholie“, die in der abschließenden Diskussion über „Chancen und Risiken für die Arbeit – Konzepte für die Informationsgesellschaft“ von der FDP-Politikerin Gisela Babel erspürt wurde, ist das Ergebnis der Entmystifizierung eines goldenen Beschäftigungswunders durch Multimedia in der digitalen network-society – sowie der Gewißheit, daß sich nicht nur Medienberufe rapide verändern und unser Verständnis von Arbeitnehmerverhältnissen und Betriebsformen mit der Folge enormen Regelungs-, Reform- und Beratungsbedarfs überholt ist, sondern daß sich auch gewerkschaftliche Arbeit radikal verändern muß. Motto: Wie und wo findet eine scheinselbständige, selbstangestellte, kundennahe, betriebsferne, mobile, vernetzte, teilabhängige Medienarbeiterin gewerkschaftlichen Schutz?
Mäßiger Beschäftigungseffekt
Die noch vor kurzem prognostizierten 1,5 Millionen neuen Arbeitsplätze durch Multimedia müssen wohl unter „Euphorie“ abgelegt werden. Einstweilen kündigt die Telekom die Vernichtung von 60000 Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren an (auch der moderne Gewerkschafter spricht, dies nebenbei, inzwischen von „Abbau“). Gerhard Bosch vom Institut für Arbeit und Technik: „Es wird allenfalls eine geringe positive Entwicklung geben. An mangelnder Nachfrage liegt es nicht. Diese wächst nach Schätzungen bis zum Jahre 2010 um 210 Prozent. Aufgrund von Produktivitätssteigerungen wird jedoch nur mit einem Anstieg der Beschäftigungszahl um 10 Prozent – um 172000 Beschäftigte – gerechnet.“
Vorausschauende Beschäftigtenbilanzen wollte niemand mehr ziehen, einig ist man sich in der Einschätzung, daß die Branche keine Retterin für die Millionen Arbeitslosen ist. Ursula Engelen-Kefer, DGB-Vize: „Optimismus ist nicht angebracht, weder die Enthusiasten noch die Skeptiker trauen sich noch Quantifizierungen zu.“
Bildungsoffensive: Fehlanzeige
Einen Tag nach der Bonner Fachtagung verkündete US-Präsident Clinton, zweifelsohne in Unkenntnis derselben, eine breitangelegte Bildungsoffensive an, nach dem Motto: Zwölfjährige ans Internet. Nach „jobs, jobs, jobs“ nun „Bildung, Bildung, Bildung“? In der Bundesrepublik wäre das Gebot der technologischen Stunde die „lernende Gesellschaft“ (Hensche). Denn Qualifizierung, Weiterbildung, Pläne für und Ausbildung in neuen Berufsbildern sind gegen Arbeitsplatzvernichtung auf breiter Front (MdB-SPD Siegmar Mosdorf: „Zehn Millionen neue Arbeitsplätze europaweit sind Unfug“) die einzig sinnvolle Gegenstrategie – will man nicht die kleine Spitze Hochqualifizierter und die breite Masse Unwissender. Nur so könnte es gelingen, „hunderttausende Beschäftigungsfähige und -willige nicht dauerhaft auszugrenzen“. (Martin Baethge, Sozialforscher an der Uni Göttingen). Selbst Helmut Stahl, Staatssekretär im Bildungsministerium räumte ein, „daß wir riesige Arbeitsplatzverluste haben werden,
wenn wir nicht die Chancen der Qualifizierung nutzen“. Gleichwohl wird bei der Bundesanstalt für Arbeit in diesem Bereich weiter gestrichen, sank der Bundesforschungsetat in den letzten neun Jahren um 28 Prozent, sparen Unternehmen Ausbildungsplätze ein, fehlen ihnen, wenn sie überhaupt innovativ sind, medienkompetente Belegschaften. Auf die „sehr mangelhafte Innovationsfähigkeit der Unternehmen“ (Blüms Staatssekretär Werner Tegtmaier) ist schlecht bauen. Einen „Weiterbildungspakt“ zu Multimedia schlugen denn auch Teilnehmer vor – Aufgabe für die Gewerkschaft (Sicherung des tarifvertraglichen Anspruchs auf Weiterbildung) und Betriebsräte (tarifliches Recht auf Weiterbildung umsetzen), denn „dann wollen wir mal sehen, wieviele dynamische Unternehmen das ablehnen“.
Drei neue Berufsbilder haben seit August ’96 eine Ausbildungsverordnung: Mediengestalter/in Bild und Ton; Film- und Videoeditor/in, Werbe- und Medienvorlagenhersteller/in. Seither wird auch in diesen Berufen ausgebildet (siehe „M“ 5/96, 11/96).
Kollektive Regelungen versus individuelle Bürgerrechte
Das traditionelle (weitgehend männlich dominierte) Arbeitnehmerverhältnis löst sich auf. Alle Varianten der Teilzeitarbeit, der befristeten Arbeit, der Teilabhängigkeit sind vorstellbar, vielfach schon Realität, der kollektive Betrieb – sowohl arbeits- als auch sozialrechtlich – zumindest in der Multimediabranche zukünftig eher selten. Arbeitsrechtler Ulrich Mückenberger sieht die kollektivrechtlichen Mittel chancenlos und forderte eine radikale Neubestimmung individueller Rechte in Form eines sozialen Bürgerrechts, die Lösung des Arbeitsrechts vom Betriebsbegriff. Individueller werden auch die Arbeitsplätze von Journalistinnen und Journalisten in Print und Hörfunk, die druck- und sendefertige Produkte per Modem in die Systeme ihrer Auftraggeber schicken; Autonomie, die Chancen und Risiken birgt. Für die hergebrachte betriebliche Interessenvertretung bedeutet dies einen tiefgreifenden Wandel. Erfahrungen bieten da die ausgebauten „Freien“- und „Technik“-Beratungen, der Bedarf an Beratungskompetenz und -präsenz wird steigen. Gewarnt wird freilich vor dem Gewerkschafter als „Unternehmensberater“: Notwendig ist jedenfalls eine einschlägige Qualifizierung der Hauptamtlichen und der Betriebsräte.
Arbeitsschutz vorbildlich
Letztere haben immerhin jetzt ein neues Instrument: Die seit Juni ’96 geltende Arbeitsschutzreform, die beste seit Bestehen der Republik, gleichwohl kaum beachtet: Sie legt eindeutige Pflichten für alle Arbeitgeber fest, bringt ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht nach 87.1.7 BetrVG, stärkt die Rechte der Beschäftigten: Chancen für humane Arbeitsbedingungen am Bildschirm. Notwendig werden zudem neue soziale Sicherungssysteme für die verschiedenen Formen der Schein- und Teilselbständigkeit werden.
Digitalisiertes Leben
Kaum diskutiert wurden – veständlich bei der Fülle und Vielfalt der Informationen und Diskussionen – die Thesen des US-Medienkritikers Joseph Weizenbaum zu „Leben und Demokratie in der Informationsgesellschaft“. Seine Warnung vor „Datenkatastrophen“, vor den anonymen, von niemandem gewählten und niemandem verantwortlichen Entscheidern über unser Leben und Arbeiten, seine Hinweise auf den grassierenden Analphabetismus (siehe nebenstehenden Text) in den USA müßten Thema eines der von Hensche noch für 1997 angekündigten weiterführenden Workshops sein. Dazu gehören Fragen wie: Wer hat Zugang zu Kommunikation und Informationstechnologien? Wie kann informationelle Grundversorgung gesichert werden? Wie wird die „Schlüsselfrage, das internationale Urheberrecht, angesichts überall in der Welt verfügbarer Infos“ (Mosdorf) geregelt und das geistige Eigentum in Internet und Online-Diensten gegen unkontrollierbare und verfälschende Nutzung geschützt? Oder ist Multimedia bald entzaubert, weil alle alles können müssen oder ohnehin nur „alter Wein in digitalen Schläuchen“ (Hensche) verkauft wird? Fragen, zu denen es jeweils viele, aber nur abgebrochene Antworten gab.
Immerhin kam am Schluß der Tagung noch einmal die Frage auf, wie wir als Mitglieder einer digitalisierten Informationsgesellschaft zukünftig leben und arbeiten wollen – als Mitglieder einer winzigen Minderheit auf dieser Erde freilich, auf der der weitaus größte
Teil der Menschheit weder englisch spricht, noch lateinische Buchstaben liest und noch nie einen Telefonhörer in der Hand hatte.
Zur Fachtagung „Multimedia und Arbeitswelt“ wird wie bereits zur ersten Fachtagung bei VSA ein Reader erscheinen.