Inhalte-Relevanz für Nutzer definieren

Re:publica 2012 in Berlin fordert Aktion und Verantwortung

ACT!ON lautete das diesjährige Kongressmotto der Re:publica, von dem sich mehr als 4.000 Teilnehmer angesprochen fühlten. Mit ihnen diskutierten rund 300 Redner aus über 30 Nationen Fragen der Netzwelt und der digitalen Gesellschaft in Deutschland.

re:publica 2012 Foto: iStockphoto re:publica2012
re:publica 2012
Foto: iStockphoto re:publica2012

Die laut Veranstalter vorrangig zur Weiterbildung gedachte „Konferenz mit Festivalcharakter“ fand vom 2. bis 4. Mai in Berlins ehemaligem Kreuzberger Postbahnhof statt, der nun „Station-Berlin“ heißt und seine ursprüngliche Funktion durch den Fabrikhallencharakter offenbart. Die Technikbegeisterung, der überwiegend unter dreißigjährigen Blogger und Internetaktivisten war nicht zu übersehen: Smartphone und Tablet-Computer gehörten zur Grundausstattung. Infostände boten zwar Hilfe bei WLAN-Problemen, aber es gab kein WLAN: Die Veranstalter schafften es zum wiederholten Male nicht, Internetzugänge zur Verfügung zu stellen. Entsprechend wurde die Netzkonferenz im Internet als „Keilschriftveranstaltung“ tituliert.
Was vor sechs Jahren als Treffen der Blogger-Szene startete, entwickelt nun zunehmend auch politische Züge. Die Konferenz sei zwar keineswegs als politische Veranstaltung zu sehen, erläuterte Andreas Gebhard, Mitorganisator der Re:publica im Gespräch mit der „M“. Man wolle aber Raum für politische Diskussionen bieten. So wundert es nicht, dass praktisch alle aktuellen politischen Fragen mit Bezug zum Internet aufgerufen waren. Auch das Motto zeugte von politischem Inhalt und soll laut Gebhard auf zwei Aspekte verweisen: Einerseits „Action“ als Aufruf, Aktionen selbst zu gestalten, andererseits „Act On“ als Dispositiv für Verantwortung und Reaktion.

 

Eine besondere politische Bedeutung dürfte der Rede von EU-Kommissarin Neelie Kroes zukommen, die der Protestbewegung gegen ACTA großen Respekt zollte und betonte, deren Aktionen hätten in Brüssel als Weckruf gewirkt. ACTA werde in der aktuellen Form wohl kaum zur Unterzeichnung kommen, so Kroes. Kritiker auf der Re:publica wandten allerdings ein, dass mit einem ähnlichen Entwurf unter neuem Namen zu rechnen sei, weil massive Wirtschaftsinteressen dahinter stünden.
Kroes sprach sich ebenso für eine Reform des Urheberrechts aus wie viele andere Vortragende auch. Es müsse sichergestellt sein, dass Urheber von ihrer Arbeit leben können. Die geringe Vergütung von Autoren und Künstlern sei in Deutschland besonders signifikant, woraus sie schlussfolgerte: „There is something rotten in the state.“ Sie äußerte Kritik an den Verwertungsgesellschaften, da diese nicht ihre Urheber schützten, sondern lediglich ihr eigenes System. Die EU-Kommissarin forderte zur Mithilfe bei der Suche nach neuen Ideen und Konzepten auf, wie Urheber zukünftig vernünftig vergütet werden könnten.

Zukunftsträchtige Innovationsfelder

Wie kann auf die Veränderungen der klassischen Medienlandschaft durch die Digitalisierung reagiert werden? Diese Frage war allgegenwärtig auf der Re:publica. Journalismus im Netz und mit dem Netz sowie neue Formen des Journalismus wurden in zahlreichen Veranstaltungen erörtert. Die Betreiber des Portals „Vocer“ („M“ 1/2012) präsentierten den zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung gerade herausgegebenen „Innovationsreport Journalismus“. In dieser Studie untersuchen die beiden Wissenschaftler Leif Kramp und Stephan Weichert die Veränderungen des Journalismus und identifizieren vier zukunftsträchtige Innovationsfelder. Datenjournalismus bildet das erste Feld und erfordert neben den journalistischen Fertigkeiten Informatikkenntnisse, da es hier wesentlich um die Analyse komplexer Daten und deren visuelle Darstellung geht. Als zweites Feld wird der mobile Journalismus genannt, der wesentlich auf der wachsenden Verbreitung von Smartphones basiert, um schnell vom Ort des Geschehens audiovisuelles Material zu liefern. Die Einbindung der Community, wie sie beispielsweise der Freitag praktiziert, wird als drittes Feld aufgeführt. Crowdfunding als neues Finanzierungsmodell bildet das vierte Innovationsfeld. Besonders im Bürgerjournalismus habe diese Finanzierungsart große Bedeutung, wie die Studie an Beispielen aus den USA zeige. Vor allem mit Crowdfunding und Datenjournalismus beschäftigten sich weitere Veranstaltungen, in denen Möglichkeiten und Formen sowie Wege zum Einstieg diskutiert wurden.
Mit den Innovationsbereichen in der Medienwelt setzt sich auch die Medienjournalistin Ulrike Langer auseinander, die ebenfalls Herausgeberin des Portals „Vocer“ ist. Im Gespräch mit „M“ erläutert Langer Probleme der Massenmedien: „Viele Nutzer – die wir früher Leser, Zuhörer und Zuschauer nannten – fragen sich, warum das, was ihnen vorgesetzt wird, für sie wichtig sein soll und erst recht, warum sie dafür bezahlen sollen.“ Journalisten müssten sich bemühen, Relevanz aus der Nutzerperspektive heraus zu definieren. Dafür könne man sich im Online-Journalismus der sogenannten Chronistenpflicht entledigen, denn im Netz reiche es, zu verlinken. So müsse nicht jeder jedes nacherzählen. Als gelungenes Beispiel führte sie die App Flipboard an. Sie stelle Inhalte anhand des persönlichen Umfelds in den sozialen Netzen zusammen. „Ich erhalte Verweise auf Medienangebote, die die Nutzer gelesen haben, denen ich beispielsweise bei Facebook folge. Man kann 1.000 Flipboard-Usern über die Schulter schauen, und bei allen wird etwas Unterschiedliches auf dem Bildschirm zu sehen sein. Das ist der persönliche Interessensfilter, der dort zum Tragen kommt.“
Das Informationsverhalten verändert sich, auf der Re:publica sah man nur noch selten Menschen Print-Publikationen lesen. Für Langer ist das jedoch keine Frage des Alters: „Ich glaube je länger Menschen im Netz unterwegs sind, desto mehr wandelt sich das Informationsverhalten. Ich habe keinen Fernseher mehr und die meisten Zeitungen abbestellt. Ich informiere mich im Netz und fühle mich dabei besser informiert, als zuvor. Dass sich der Inhalt im Netz befindet, ist für mich die Standardvariante. Gedruckte Zeitungen sind eine optionale analoge Ausgabeform eines per se digitalen Inhalts. Und ich bin kein Digital Native. Ich glaube nicht, dass es in 20 Jahren noch viele gedruckte Tageszeitungen geben wird. Ich weiß auch nicht, warum Tageszeitungen gedruckt werden müssen. Warum müssen Inhalte zurückgehalten werden, bis sie dann einmal am Tag ausgedruckt werden und nach stundenlanger Verzögerung in den Briefkästen landen? Sicherlich gibt es noch eine Generation von Lesern, die mit dem Internet nicht aufgewachsen ist und dort auch nicht rein findet, aber die werden wegsterben.“ Anders sehe es bei Magazinen aus: „Print hat seine Berechtigung im Zeitschriftenbereich und bei Wochenzeitungen – die ZEIT verkauft ja mehr Exemplare als früher.“
Aus diesen Veränderungen ergeben sich modifizierte Arbeitsabläufe und besonders freie Journalisten müssen sich anders aufstellen. „Der Prototyp des Generalisten mit dem Bauchladen wird es zukünftig schwer haben“, sagt Langer, „freie Journalisten müssen sich sehr viel stärker als früher spezialisieren. Ich war früher auch Generalistin, schrieb für eine große Tageszeitung als Medienjournalistin. Das ist an sich schon eine Spezialisierung, aber immer noch sehr breit. Mittlerweile bearbeite ich 4 bis 5 Themengebiete, die unter der Bezeichnung digitale Medieninnovation miteinander zusammenhängen“.
Neben der thematischen Eingrenzung sollten Freie ihr Tätigkeitsfeld erweitern. „Ich nutze meine Expertise, um mit dem Journalismus verwandte Bereiche abzudecken. Zum Beispiel berate ich Medienhäuser in den USA zum Umgang mit dem digitalen Wandel und ich gebe auch Seminare. Der Vorteil, wenn man sich mit an die Spitze von neuen Entwicklungen stellt, ist nicht nur, dass man nicht abgehängt wird, sondern man kann auch Geld damit verdienen, anderen zu zeigen, wie es geht. Die Schinderei für geringes Zeilengeld kann man sich dann irgendwann sparen.“
Mit den zunehmenden Anforderungen und notwendigen Qualifikationen steigt allerdings der Aufwand für Freie erheblich. Dem könne man aber etwas entgegensetzen, wenn man sich vernetze: „Journalisten sollten sich insgesamt viel stärker vernetzen. Nicht nur um gegen die bestehenden Verhältnisse zu protestieren, sondern um Kompetenznetzwerke zu bilden. Damit haben freie Journalisten auch mehr Marktmacht.“ Dabei könne es sich auch um lose, wechselnde Netzwerke handeln, die sich projektabhängig neu zusammensetzen.

Smartphones als Waffe

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat unlängst das Buch „Der entfesselte Skandal“ veröffentlicht. Darin wie auch in seinem Vortrag betrachtet er ganz andere Folgen der digitalen Medienrevolution. „Alle senden, speichern, publizieren“, so Pörksen. Smartphones würden zu Waffen. Jeder von uns müsse jederzeit mit unbekannten Ton- und Bildaufnahmen rechnen, die einmal ins Netz gestellt, öffentlich wirksam werden können. „Manchmal reicht schon ein einziger Klick, und in falsche Kanäle geratene E-Mails, Fotos, Handy-Videos oder SMS-Botschaften beenden eine Laufbahn und besiegeln ein Schicksal.“ Durch mobile Geräte würden Informationen generiert, die in einem Zombie-Zustand schlummerten, aus dem sie jederzeit aufgeweckt werden könnten. Die neuen Tools wie Smartphones führen so zu neuen Opfern, weil jeder ohne eigenes Wissen in allen möglichen Situationen abgelichtet werden könne. Und man wisse nie, welche Aufnahmen andere besitzen und was sie damit machen. Ins Netz gestellt ergebe sich durch das audiovisuelle Material ein persönliches Image, dass der Einzelne nicht mehr kontrollieren könne. Dem müsse begegnet werden, indem journalistische Kompetenzen zu einem Element der Allgemeinbildung gemacht werden, fordert Pörksen.
Darüber hinaus reichte das bunte Themenspektrum der Re:publica von Medizin im Netz, über Design und Kunst im Web bis zur Entwicklung von Geschäfts- und Finanzierungsmodellen für Startups. Auch an Unterhaltung fehlte es nicht.

 

Lesetipps

Innovationsreport Journalismus. Ökonomische, medienpolitische und handwerkliche Faktoren im Wandel
von Leif Kramp und Stephan Weichert. Kostenlos als PDF in der Digitalen Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
http://library.fes.de/pdf-files/akademie/08984.pdf

Der entfesselte Skandal: Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter
Bernhard Pörksen,
Hanne Detel, 2012. Buch.
248 S.: 28 Abbildungen.
Hardcover Halem, 19,80 Euro H. ISBN 978-3-86962-058-9

Mehr zur Re:publica 2012 im Internet unter:
http://re-publica.de/12/

 

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