Die einen beschwören einen „Boom des Dokfilms“, die anderen winken ab: Die Menge habe nichts mit Qualität zu tun. Tatsächlich erreichen Dokumentarfilme mit großer Themenvielfalt und unterschiedlichen Erzählweisen seit einigen Jahren kontinuierlich ein immer größer werdendes Kinopublikum. Das weltweit älteste Dokumentarfilmfestival – DOK Leipzig – beging in diesen Tagen sein 50jährigens Jubiläum.
Unter den 100 deutschen Titeln, die im Jahr 2004 die meisten Besucher hierzulande ins Kino lockten, zählte die Filmförderungsanstalt (FFA) in ihrer „Hitliste“ 15 Dokumentarfilme. So ließen sich z.B. rund 800.000 Zuschauer von der deutsch-britischen Koproduktion „Deep Blue“ in die faszinierende Unterwasserwelt der Ozeane entführen. Weit über 300.000 Menschen verfolgten bei „Rythm is it“, wie eine wild zusammen gewürfelte Gruppe Jugendlicher über den Tanz und die klassische Musik zu mehr Selbstbewusstsein findet und zusammenwächst. 2005 sahen sich insgesamt 578.000 Besucher Dokumentarfilme im Kino an, einer der bestbesuchten war dabei die Ethno-Doku „Die Höhle des gelben Hundes“ (Foto rechts).
Und im Fußball-WM-Jahr 2006 sahen allein 3,9 Millionen Kinobesucher Sönke Wortmanns „Deutschland – ein Sommermärchen“ und brachen damit alle Zuschauerrekorde für einen Dokumentarfilm. In diesem Jahr führt der Film über die deutsche Handballnationalmannschaft „Projekt Gold“ die Hitliste mit 123.000 Zuschauern an. „Diese Zahlen sind erfreulich, man muss sie jedoch relativieren“, so Christine Berg von der FFA. Denn in den genannten Jahren kamen kontinuierlich zwischen 33 und 44 Dokumentarfilme jährlich in die deutschen Kinos und es waren immer nur einige wenige, die eine breite Masse ansprechen konnten. Die meisten erreichten weniger als 10.000 Zuschauer. Dennoch: „Der Dokfilm ist aus der Schmuddelecke raus, der Normalmensch will diese Filme sehen“, konstatiert Berg. Das meint auch Thomas Frickel, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Dokumentarfilmer in Deutschland (AG DOK), die rund 800 Dokumentarfilmer vertritt: „Seit etwa fünf, sechs Jahren verzeichnen wir für das Genre zunehmende Zuschauerzahlen.“ Einen Auslöser für das wachsende Interesse sieht der Autor und Regisseur in bemerkenswerten Produktionen, die weltweit Aufsehen erregten. Ein weiterer Grund sei, dass sich die vom Fernsehen oftmals enttäuschten Menschen wieder auf ein Thema intensiver einlassen wollen. „Es kommt darauf an, dass es mitreißende, emotionale, auch unterhaltsame Filme sind, die aber dennoch ehrlich mit dem Zuschauer umgehen“, meint Frickel. Ein solches „Erfolgsrezept“ verfolgen auch etliche Produzenten, Verleiher und Kinobetreiber.
Dennoch bleibt die Frage, wie viel Doku in den Kinos überhaupt Platz hat. „Wir haben zu viele Dokfilme im Kino, die zu wenig Zuschauer haben“, stellt Heike Heidrun Podzus vom Ventura Filmverleih nüchtern fest. Podzus, als Verleiherin des Jahres ausgezeichnet, spricht von einer „Filminflation“, denn die Gesamtzahl der Filme, die jährlich in deutsche Kinos kommen, steigt kontinuierlich: Rund 500 werden es in diesem Jahr sein, davon rund 170 deutsche Produktionen. Fraglich, wie diese Masse auf den rund 4.300 Leinwänden in Deutschland noch angemessen präsentiert und beworben werden soll. Mehr noch: Wie erreicht man Aufmerksamkeit für die 30, 40 Dokumentarfilme? Die Zahl der Häuser, die sich auf Produktionen abseits des Mainstreams und Dokumentarfilme spezialisiert haben, liegt bei rund 200, Tendenz fallend. Denn das Publikum für diese Nische ist zwar engagiert, bleibt aber klein. Von den wenigen Doku-Reißern, die auch in den Multiplexen guten Anklang finden, mal abgesehen. Rainer Krisp, Betreiber des 3001-Kinos im Hamburger Schanzenviertel (ein Saal mit rund 100 Plätzen): „Den Zuschauerboom hatten wir in den 1990er Jahren. Es wird immer schwieriger, das Haus zu füllen. Das entscheidende Kriterium für den Erfolg ist und bleibt aber die Qualität der Dokfilme.“
Verschärfte Regeln für den Zugang von Dokfilmen auf die Kinoleinwände fordert Torsten Frehse vom Neue Visionen Filmverleih in Berlin: „Viele Dokfilme landen unnötigerweise in den Kinos. Da muss man sich fragen, ob es einem Film und seinem Macher zuträglich ist, wenn er keine Zuschauer findet.“ Doch das „ausweichen“ aufs Kino ist nicht allein eine Frage der Qualität, sondern auch ein Problem mangelnder Abspielplätze für Dokfilme in anderen Medien, etwa dem herkömmlichen Fernsehen. So verwundert die Forderung nicht, dass es eine filmpolitische Aufgabe sei, die Bedingungen für anspruchsvolle Filme zu verbessern.
Ganz anders als in Deutschland ist die Situation in unseren deutschsprachigen Nachbarländern. In Österreich und der Schweiz sind Dokumentarfilme traditionell fester Bestandteil des Kinoprogramms – sie machen dort rund die Hälfte der Filme aus. Entsprechend optimistisch äußert sich Alexander Dumreicher-Ivanceanu vom Pool Filmverleih in Wien: „Die Sehnsucht der Menschen nach Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit wächst, das birgt riesige Chancen für den Dokfilm.“ Das Kino als Gegenöffentlichkeit. Für den Wiener sind inhaltliche Qualität, Radikalität in der Umsetzung und gute Vermarktungsideen die Schlüssel zum Erfolg, auch wenn die Beurteilung von Erfolgschancen für ein Filmprojekt immer eine Gratwanderung bleibe.
Carola Stern vom Verleiher Filmcoopi aus Zürich ist weniger euphorisch: „Wir erleben zunehmend Quantität statt Vielfalt. Besonders bei Dokfilmen ist mehr Selbstdisziplin von Produzenten und Verleihern nötig, um ihnen in dem schier unüberschaubaren Wust von neuen Produktionen noch die richtige Bühne zu verschaffen.“ Weniger wäre also mehr.
Wie es auch anders geht, zeigt das Projekt delicatessen (www.delicatessen.org) seit ein paar Jahren – cineastischer Anspruch paart sich da mit moderner Technik. Gestartet 2004 als European DocuZone von der Salzgeber und Co. Medien GmbH und unterstützt mit EU-Geldern sind allein in Deutschland mittlerweile 40 Kinos in fast allen Bundesländern mit digitaler Projektionstechnik ausgestattet. Im Gegenzug zeigen sie wie ihre Partner in fünf weiteren Ländern Europas anspruchsvolle Kinofilme – vor allem kleine Produktionen, viele mit dokumentarischem Charakter – in Spitzenqualität. Aktuell läuft gerade „Das Reichsorchester“ über die Vergangenheit der Berliner Philharmoniker. Delicatessen eben statt Fastfood, und auch noch erfolgreich!