Das Spannende im Alltäglichen

Medien bevorzugen das Sensationelle – Perspektivwechsel nötig

„Mann beißt Hund“ – Medien berichten über das Außergewöhnliche, das „Nicht-Alltägliche“. Aber auch der gewöhnliche von Routinen geprägte Alltag kann spannend präsentiert werden, ohne ethische Grenzen zu verletzen. Über das „Wie“ diskutierten Medien- und Sozialwissenschaftler/innen Anfang Oktober in Lüneburg – mit interessanten Anregungen für die journalistische Praxis.

„Der Nachrichtenjournalismus ist nicht geeignet, vom Alltag der Menschen zu erzählen“, konstatierte Margreth Lünenborg, Gastprofessorin am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin. Gängige, auf Dichotomien beruhende Nachrichtenfaktoren wie Prominenz, Konflikt und Negativität grenzten das Alltägliche aus. Sie selektierten geschlechterhier­archisch strukturierte Handlungsfelder wie Politik und Wirtschaft und vernachlässigten andere Handlungsfelder wie Erziehung, Bildung, Gesundheit, in denen es paritätische oder frauendominante Strukturen gibt. So konstruierten die Medien eine eigenständige Wirklichkeit, die wiederum Geschlechterdifferenzen bestärke.
Auf gesellschaftlicher Ebene konstituiere der Journalismus für das Publikum Alltäglichkeit – weniger durch Fakten und Informationen als vielmehr durch im­manente Benennung von Norm und Abweichung, Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein und verfestige so Macht­hierarchien. Lünenborg plädiert deshalb für veränderte Selektionskriterien wie Prozesshaftigkeit statt Ereignisorientierung, Zusammenhänge statt Partikularinformationen, an Stelle von Konflikten deren gesellschaftliche Kontexte, Authentizität statt Prominenz.

Frauen als Alltagspersonen

Wie Alltag sowohl in populären als auch seriösen Medien thematisiert werden kann, zeigte sie an zwei Beispielen. Sie verdeutlichen unter anderem, dass Frauen als „Alltagspersonen deutlich bessere Chancen haben, gesehen und journalistisch wahrgenommen zu werden“. Unter dem Titel „Der jüngste Tag“ (31.8.06) berichtet die ZEIT „authentisch und reflektierend“ von einem Selbstversuch: Für einen Tag wurden die Kinder aller Redaktionsmitarbeiter/innen eingeladen, um das „Prob­lem der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie in praktischer Erprobung zu bearbeiten“. In einem Beitrag „Familie Hartz IV“ (2.10.06) stellte die Berliner Boulevardzeitung BZ die Folgen der politischen Reformen für das Alltagsleben „identitäts­bildend, schick­sal­haft und mitfühlend“ dar. Alltagsberichterstattung bedeute, nicht danach zu fragen, „was heute und jetzt passiert, sondern danach, welche Folgen Entscheidungen und Ereignisse ­haben“, so Lünenborg. Die Reportage mit ihren fließenden Grenzen zwischen Journalismus und Literatur sei ein geeignetes Genre.

Männlicher Blickwinkel

Etwas anders sieht das die Darmstädter Medienprofessorin Friederike Herrmann: Die Reportage sei zu sehr konstruiert, benötige einen Spannungsbogen und damit das „Besondere“. Sie plädierte für fragmentarische Erzählungen, Miniaturen ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit wie man sie in Weblogs finde. Es komme eher auf die Perspektive als auf den Gegenstandsbereich an. Genauso wie in der Geschichtswissenschaft „Barfußhistoriker“ mit einem Perspektivwechsel („Geschichte von unten“) für neue Einblicke in das Leben der „kleinen Leute“ sorgten, genauso könne auch ein Perspektivwechsel im Journalismus mehr Alltag in die Medien bringen.

Wie Lokalzeitungen diese Chance allerdings vergeben, demonstrierte Herrmann am Beispiel von Lokalberichten im Schwäbischen Tagblatt, wo Journalistinnen relativ großen Einfluss auf die Bericht­erstattung haben könnten. Die Lokal­redaktion der links-liberalen Zeitung sei „eher gut ausgestattet“: Von 14 Redaktionsmitgliedern sind sieben Frauen, davon eine in Leitungsfunktion. Dennoch werden in den vier Artikeln vom 5. November 2003, die auf eigener Themensetzung beruhen, 10 Männer namentlich genannt und nur eine Frau in einem Beitrag über den Einzelhandel indirekt unter „Einkäufer/innen“ subsummiert. Herrmann nannte fünf Ursachen für die verpassten Chancen, bei „bürgernahen und alltagsbezogenen Themen Frauen zu Wort kommen zu lassen“: die Konzentration auf Fakten und die Top-Down-Perspektive, die beruflich höher Positionierte (zumeist Männer) eher zitiert. Die Orientierung an gängigen Nachrichtenwerten wie „Relevanz“ , der Bezug auf institutionalisierte Gruppen und eingefahrene Recherche­wege verstärken ebenfalls den männlichen Blickwinkel.

Kritik am Reality-TV

Kritisch bewertete Herrmann den „Bürgerjournalismus“, der seine Möglichkeiten „oft verfehlt“. Wenn die netzeitung beispielsweise ihre Nutze/innen zum Schreiben auffordere, dabei aber die „klassischen Ressorts“ Politik, Lokales, Sport für die Textplatzierung vorgebe, „so wird der Alltag nicht reinkommen“.
Während Herrmann die Ansicht vertrat, die Banalität des Alltags, nicht die Sensation müsse gezeigt werden, um Wirklichkeit zu spiegeln, meinten andere, die „Störungen“ der Alltagsroutinen seien das „eigentlich Interessante“ – wie etwa in den Vorher / Nachher-Geschichten des Reality-TV.
Die Salzburger Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Klaus setzte sich kritisch mit dem Reality-TV als Alltagserzählung auseinander und zeigte am Fall der vor acht Jahren entführten Natascha Kampusch, wie sehr die Inszenierungstrategien von Dokusoaps auch für nachrichtliche Ereignisse gelten können. Eine „Illusion von Nähe und Vertrautheit“ werde über das Duzen, die Nennung des Vornamens hergestellt, etwa wenn die Kärtner Woche titelt: „Natascha lebt, Peiniger tot“. Dieses Verfahren gelte auch für Doku­soaps. Positiv davon unterscheide sich die preisgekrönte WDR / Arte-Produktion „Abnehmen in Essen“, die den Protagonistinnen Respekt zolle, wenn sie die vollständige Anrede in Form des abgekürzten Nachnamens („Sabina B.“) verwende. Vertrautheit werde auch durch die „Kamera in der Wohnung“ hergestellt“.
Durch die „Suche nach der authentischen Stimme“ werde ein „enormer Druck auf die Protagonisten“ ausgeübt. Natascha Kampusch reagierte auf diesen Druck mit einer kontrollierten Medienoffensive: „Die aus der Gefangenschaft Befreite kämpfte um die Deutungshoheit ihrer eigenen Geschichte“, so Klaus. Doch Familien, die die RTL-„Super Nanny“ in Anspruch nähmen, würden nachher teilweise von Nachbarn geschnitten. Klaus forderte eine unabhängige Kontrollinstanz für die Medien, um zu verhindern, dass die Menschenwürde der Betroffenen verletzt wird.

Marktplatz der Sensationen

Der Alltag werde „als Marktplatz der Sensationen“ inszeniert. Im Fall Kampusch wurde die gefragte Mischung aus Leid und Sex etwa von der Daily Mail bedient: „Sex slave, pregnant by kidnapper“. Solche „krassen Stereotypisierungen“ prägten auch Dokusoaps, etwa in „Frauentausch“. Die O-Töne seien nicht authentisch, sondern würden lediglich zur Stützung der Journalistenmeinung eingesetzt. Reality-TV bewege sich zwischen „Entwürdigung und Ermächtigung“. Die Art der Inszenierung entscheide, wie dicht der Beitrag am Alltagleben sei und wie das emanzipatorische Element wirke – eine Frage der Ethik und der journalistischen Qualität.

Hinweis

Die Tagung „Alltag in den Medien – Medien im Alltag. Repräsentation, Rezeption, Geschlechterverhältnisse“ wurde von der Fachgruppe Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) in Kooperation mit dem Forschungszentrum Medienkultur und Mediensozialisation der Universität Lüneburg veranstaltet. Eine Auswahl der 20 Vorträge wollen die Organisatorinnen, die beiden Lüneburger Professorinnen Jutta Röser und Tanja Thomas, 2007 in einem Sammelband veröffentlichen.

 

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