Zeitungsneugründung im Dreiländereck setzt auf Marktlücke
Im sächsischen Görlitz liegt seit dem 3. Mai eine neue Tageszeitung an den Kiosken. Pünktlich zur EU-Erweiterung erschien in Deutschlands östlicher Stadt, im Dreiländereck mit Polen und Tschechien, die „Görlitzer Allgemeine“ (GA).
Während die Medienbranche unter der anhaltenden Rezession stöhnt, strotzt Initiator und Herausgeber Markus Kremser vor Gründungseifer. Er setzt auf den Standortvorteil und auf die von ihm beobachtete Unterversorgung der Region mit lokaler Information.
„Unser Konzept besteht darin, alle Nachrichten konsequent auf’s Lokale herunterzubrechen“, sagte er. Ob LKW-Maut oder Gesundheitsreform – die Leser der GA sollen sich bei allen wichtigen politischen Themen mit ihrer spezifischen Betroffenheit im Blatt wieder finden. Nach den Plänen der Redaktion soll die „Görlitzer Allgemeine“ mit einer Startauflage von 3.500 bis 4.500 Exemplaren montags bis sonnabends im Tabloid-Format erscheinen und 16 Seiten umfassen. Der Verkaufspreis der Zeitung beträgt 60 Cent. Etwa die Hälfte des Umfangs wird der Lokalberichterstattung gewidmet. Für überregionale Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Kultur bedient man sich der Dienste zweier Agenturen.
Bereits zum 1. Mai erschien mit Blick auf die an diesem Tag in Kraft tretende EU-Osterweiterung eine Sonderausgabe der „Görlitzer Allgemeinen“. Das Verbreitungsgebiet umfasst den Landkreis Löbau-Zittau, den niederschlesischen Oberlausitzkreis und die kreisfreie Stadt Görlitz. Für Druck und Vertrieb will die GA den Standortvorteil der 62.000-Einwohner-Stadt Görlitz im Dreiländereck nutzen. „Sowas kann nur hier funktionieren“ sagt Kremser. Die Kostenstruktur in dieser armen Region ist vergleichsweise günstig: preiswerte Mieten, niedrige Löhne. Gedruckt wird in Polen.
Kremser glaubt an die Marktlücke und argumentiert mit der Abneigung der Görlitzer gegen alles, was aus der sächsischen Landeshauptstadt kommt. „Alles, was aus Dresden kommt, wird hier sehr argwöhnisch betrachtet“, so Kremser. Der Hunger nach Informationen aus der Region sei zudem wesentlich größer als das entsprechende Angebot der „Sächsischen Zeitung“. „Kaufen Sie Ihre Milch etwa in Dresden?“ – mit diesem Werbeslogan versuchten die GA-Macher an dieses verbreitete Unbehagen zu appellieren. Die „Sächsische Zeitung“? Die zu abonnieren müsse einen Görlitzer doch ebenso viel Überwindung kosten wie einen Düsseldorfer der Kauf des „Kölner Stadtanzeigers“.
In Bonn und Bozen gelernt
Der Regionalmonopolist – er gehört zu jeweils 50 Prozent Gruner + Jahr und der SPD-Holding DDVG – vertreibt in Görlitz und Umgebung immerhin rund 19.000 Exemplare. Frank Seibel, Redaktionsleiter der Görlitzer Lokalausgabe, gibt sich gelassen: „Wir beobachten das Projekt“, sagt er, die Konstellation David kontra Goliath werde sicher für einen gewissen Neugierfaktor sorgen. Aus der Dresdner Zentrale hatte es noch vor kurzem wesentlich aggressiver geklungen. Das Ganze sei entweder „ein blauäugiger Kamikazeakt“ oder der „Versuch einer Familie, die sehr viel Geld hat, sich ein Sprachrohr zuzulegen“.
Der 30jährige Herausgeber Markus Kremser stammt aus einer Künstlerfamilie, die vor einem Jahr von Bonn nach Görlitz gezogen ist. Journalistische Erfahrungen sammelte der gebürtige Mecklenburger beim „Bonner Generalanzeiger“ sowie bei der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“ in Bozen. „Unsere Zielgruppe sind unter anderem die Leser der ‚Sächsischen Zeitung‘, die das Blatt in den letzten fünf Jahren abbestellt haben“, sagte Kremser.
Finanzieren will sich das neue Blatt aus Werbungs- und Verkaufserlösen. Nach Angaben Kremsers gab es bis Anfang Mai bereits einige Hundert Abo-Bestellungen. Die 14köpfige Mannschaft setzt sich etwa zur Hälfte aus Berufsanfängern zusammen. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist das Projekt durchaus problematisch. An tarifliche Bezahlung ist angesichts der geringen Kapitalausstattung nicht zu denken. Die Verhältnisse erinnern ein wenig an die Anfänge der „tageszeitung“ taz: Alle Mitarbeiter arbeiten zunächst auf Honorarbasis. In der Startphase sollen diese Honorare je nach wirtschaftlicher Entwicklung des Projekts wöchentlich neu festgesetzt werden. „Wir können nur das verteilen, was reinkommt“, sagt Kremser.
Setzt auf EU-Erweiterung
Ursprünglich hatte das Blatt bereits am 15. April erscheinen sollen. Wegen der gegenwärtig laufenden Einführungskampagne einer Sonntagsausgabe der „Sächsischen Zeitung“ wurde der Starttermin auf Anfang Mai verschoben. Auch eine neue Druckerei musste gefunden werden, nachdem das zunächst kontraktierte Unternehmen den Auftrag kurzfristig zurückgab. Ein Störmanöver der Konkurrenz? Kremser lächelt vielsagend. Er rechnet mit weiteren Unfreundlichkeiten.
Allen Unkenrufen zum Trotz sieht er Görlitz als künftige Boom-Region. Befördert werde dieser Boom von mehr oder weniger wohlhabenden Westbürgern, die sich in Görlitz niederließen. Mit der EU-Ost-Erweiterung, davon ist er überzeugt, werde sich dieser Trend noch beschleunigen. Sollte das Abenteuer „Görlitzer Allgemeine“ glücken, wäre dies seit dem Auftritt der „Financial Times Deutschland“ hierzulande die erste Neugründung einer Tageszeitung.