ver.di engagiert sich in der Auseinandersetzung mit der EU für den Erhalt von Programmautonomie und die Zukunftsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland. Die EU-Generaldirektion (GD) Wettbewerb in Brüssel hat im Zwischenergebnis eines Prüfverfahrens aufgrund von Beschwerden am 3. März 2005 die „vorläufige“ Auffassung vertreten, dass das Gebührensystem für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland in seiner bisherigen Form nicht vereinbar ist mit dem Gemeinsamen Markt in Europa. «M» sprach darüber mit Frank Werneke, stellvertretender Vorsitzender von ver.di.
«M»: ver.di sieht mit der Brüsseler Verlautbarung die Rundfunkfreiheit in Gefahr, geltendes Recht in Frage gestellt. Ist das nicht zu hoch gegriffen?
Frank Werneke: Nein. Es gibt in der Brüsseler Stellungnahme eine Vielzahl von Punkten, die höchst strittig sind. Aber allein in mindestens drei Kernpunkten stellt sich die GD Wettbewerb direkt gegen Grundsätze der Rundfunkfreiheit, wie sie durch das Grundgesetz (Art. 5) gewährleistet wird. Diese galten durch das Amsterdamer Protokoll zum EG-Vertrag 1997 als abgesichert. So interpretiert die GD Wettbewerb das deutsche Gebührensystem als „Zwangsabgabe“ im Sinne staatlicher Beihilfen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wäre so gesehen ein Staatsfunk. Was er nicht ist. Seine Staatsferne und damit seine Unabhängigkeit bis hin zur Ermittlung des Gebührenbedarfs sind in Frage gestellt. Natürlich wird das so nicht direkt von der GD Wettbewerb formuliert. Aber über den Umweg einer wettbewerbsrechtlichen Prüfung werden staatliche Eingriffe legitimiert. Zum Beispiel wenn Restriktionen im Informationsangebot in wettbewerbsstarken Bereichen gefordert werden. Auch das geschieht über den Umweg wettbewerbsrechtlicher Auflagen. Der dritte Kernpunkt ist die Begrenzung des Rundfunks auf bestimmte Kommunikationsplattformen. Das wird für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu einer Existenzfrage, denn wenn den öffentlich-rechtlichen Anstalten neue Kommunikationsplattformen, vor allem im Mobilfunkbereich, verwehrt werden, bedeutet dies das Ende von Entwicklungsfähigkeit.
«M»: Die GD Wettbewerb fordert aber doch vor allem mehr Transparenz bei der Ermittlung des Bedarfs und der Verwendung von Gebührengelder. Ist das nicht berechtigt, auch mit Blick auf die privatwirtschaftlichen Aktivitäten der öffentlich-rechtlichen Sender in den letzten Jahren?
Werneke: In gewisser Weise schon. Jedoch kann dies auch mit dem bisherigen Rundfunkfinanzierungssystem gewährleistet werden. Man muss hier klar unterscheiden zwischen einem Regelungsbedarf, den es „binnenstaatlich“, also im Verfassungsrahmen der Bundesrepublik Deutschland gibt, und den Brüsseler Vorgaben. Die berücksichtigen nämlich in keiner Weise die besondere Funktion beispielsweise der Kommission zur Entwicklung des Finanzbedarfs (KEF). Niemand ist gegen mehr Transparenz, das haben auch die Rundfunkanstalten deutlich gemacht. Aber es macht einen erheblichen Unterschied aus, ob dies nach den Maßgaben der EU-Transparenzrichtlinie für staatliche Beihilfen oder im deutschen Verfassungsrahmen geschieht. Es sind ja tatsächlich durch Aktivitäten der Rundfunkanstalten Grauzonen entstanden – etwa im privatwirtschaftlichen Engagement, beispielsweise durch Outsourcing von Produktionsfirmen, wie es gerade bei Radio Bremen geschieht. Natürlich fordern wir hier eine Offenlegung und Dokumentation der Gebührenverwendung. Doch das hat mit der Brüsseler Kritik nichts zu tun. Im Gegensatz zum Vorschlag der GD Wettbewerb, halte ich es nicht für sinnvoll, für die Überprüfung der Gebührenverwendung neue Kontrolleinrichtungen zu schaffen. Die vorhandenen Einrichtungen reichen völlig aus, dazu gehören auch die Rundfunkgremien. Sie müssen jedoch mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet werden.
«M»: ver.di sieht in der Qualifizierung von Rundfunkgebühren als staatliche Beihilfen auch einen direkten Eingriff in die Programmautonomie ?
Werneke: Ja, und noch mehr, nämlich ein staatliches Vorschreiben des Programmauftrags selber, der aber nach deutschem Verfassungsrecht Bestandteil der Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist. Der Vorwurf, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hätten überhöhte Preise etwa bei den Senderechten für Sportberichterstattung mittels Subventionierung durch Rundfunkgebühren zahlen können, trifft nicht zu. Das Preisniveau ist ja seinerzeit im freien Wettbewerb durch die privaten Sender maßlos hochgetrieben worden. Außerdem meint die GD Wettbewerb, dass der durch den Erwerb der Senderechte erreichte Umfang der Sportberichterstattung dem Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht entspricht. Was aber der Fall ist. Völlig abwegig ist der Vorwurf, durch Hinzukauf von „pay-tv“-Senderechten sei eine Wettbewerbsverzerrung eingetreten. Zumindest kann man das nicht den Rundfunkanstalten vorhalten – eher den Anbietern, die „free-tv“-Rechte nur im Paket verkauft haben. Und für so genannte Sublizenzen für „pay-tv“-Rechte haben sich auch gar nicht ausreichend Käufer gefunden.
«M»: Brüssel gesteht dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk prinzipiell das Recht zu, „programmbegleitend“ Online-Angebote weiter zu entwickeln. Aber sie will auch hier den Finger auf kommerzielle Angebote legen. Was steckt dahinter?
Werneke: Eher Unverständnis. So weit es Anlässe zur Kritik gab, bestehen diese nun nicht mehr – die Internetangebote der Rundfunkanstalten sind eingeschränkt worden, aus meiner Sicht sogar zu stark. Die von der GD Wettbewerb eingeforderte Trennschärfe bei der Unterscheidung von Informations- und kommerziellen Angeboten ist von den öffentlichen-rechtlichen Anstalten hergestellt worden. Wenn aber in Zukunft interaktive Kommunikationsmedien (etwa Mobilfunk) ausgeschlossen sein sollen, wird der „dynamische Rundfunkbegriff“, wie ihn das Bundesverfassungsgericht festgeschrieben hat, empfindlich berührt. Hier droht ein Normenkonflikt zwischen deutschem und europäischem Recht. Man muss daran festzuhalten, dass nicht die Besonderheit einer technischen Plattform und Kommunikationsstruktur, sondern deren Nutzung für den allgemeinen Auftrag entscheidend ist. Es geht also um den kommunizierten Inhalt und dessen Orientierung an der „Allgemeinheit“. Ob dies via Fernsehgerät, Internet oder Handy geschieht, darf angesichts des prognostizierten rasanten Wandels der technischen Plattformen keine Rolle spielen.
«M»: Wie ist zu erklären, dass die Europäische Union gerade jetzt diesen Topf so vehement aufmacht und das, obwohl das Rundfunksystem Deutschland doch nahezu einzigartig ist und nichts selten als beispielhaft dargestellt wird?
Werneke: Der Zwischenbescheid der Generaldirektion Wettbewerb ist ja einerseits nur Höhepunkt einer langfristigen Entwicklung. Seit langem ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland unter Beschuss. Das Bundesverfassungsgericht hat bei verschiedenen Gelegenheiten die Rundfunkfreiheit und die Entwicklungsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks jedoch verstärkt. Insoweit sind die Anlässe, die Beschwerden bei der EU, auch als Versuch zu werten, auf europäischer Ebene das zu erreichen, woran man in Deutschland bislang gescheitert ist.
Andererseits besteht die Brisanz des jetzigen Verfahrens darin, dass es in eine Phase rechtspolitischer Neuordnung der Europäische Union fällt.
Das betrifft alle wettbewerbsrelevanten Gebiete – auch die Medien- und Kulturpolitik. Wir haben es hier in vielen Einzelfällen mit dem einen allgemeinen Problem zu tun: dass Grundrechtsfragen, etwa die der Rundfunkfreiheit, immer wieder zu reinen Ausnahmebestimmungen im Wettbewerbsrecht reduziert werden. Konkret für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bedeutet das, dass die Schutzbestimmungen etwa des Amsterdamer Protokolls zum EG-Vertrag 1997 einseitig wettbewerbsrechtlich interpretiert werden. Natürlich hält sich die GD Wettbewerb in den Formulierungen an diese Schutzbestimmungen, was aber de facto rein deklamatorisch bleibt.
«M»: Was würde es bedeuten, wenn die GD Wettbewerb bei ihrer Meinung bleibt und sich der Europäische Gerichtshof dem anschließt?
Werneke: Bis Anfang Mai muss die Bundesregierung zu verschiedenen Fragen Stellung genommen haben. Wenn sowohl die Darlegung des bisherigen Sachverhalts als auch einzelne Regelungsvorschläge von der GD Wettbewerb nicht akzeptiert werden, wird man zumindest in den Kernpunkten der Kontroverse nicht an einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorbei kommen. Immerhin hat dieser in seiner Rechtsprechung einen Beihilfebegriff definiert, mit dem die Rundfunkgebühren in Deutschland nicht erfasst werden.
«M»: Und wenn sich der Europäische Gerichtshof dennoch der GD Wettbewerb anschließt?
Werneke: Einmal davon abgesehen, dass ich das für nicht sehr wahrscheinlich halte, enthält diese Frage politischen Sprengstoff. Denn mit einer solchen EuGH-Entscheidung entstände ein rechtspolitischer Grundsatzkonflikt, der weit über die Rundfunkpolitik und auch Medienpolitik hinausgreift. Das Bundesverfassungsgericht ist ja immer bei seiner Auffassung geblieben, in entscheidenden Fragen europäische Rechtssprechung einer eigenen Überprüfung zu unterziehen. Gerade weil das Bundesverfassungsgericht fortlaufend dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem – nicht zuletzt in den jetzt strittigen Fragen – einen sehr hohen Rang eingeräumt hat, entstände also im konkreten Fall ein europäischer Verfassungskonflikt.
«M»: Wie verhält sich ver.di konkret im jetzigen Konflikt?
Werneke: Wir begleiten den gesamten Prozess im Interesse, mit dem Rundfunkgebührensystem die Programmautonomie und Zukunftsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sichern. So haben wir uns in den bisherigen Stellungnahmen geäußert und wir werden das auch in die Verhandlungen jeweils einbringen. Das bleibt auch der Maßstab, um die Verhandlungsergebnisse und letztlich die Entscheidung der GD Wettbewerb im Einzelnen zu bewerten.
Entscheidend wird sein, dass man sich nicht unter das EU-Beihilferegime begibt, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk damit also einer mehr oder weniger fortlaufenden Kontrolle durch die EU-Kommission unterwirft. Um das dauerhaft zu verhindern, werden nur kurz- und mittelfristig wirksame Kompromisse nicht ausreichen, auch wenn sie sich zurzeit in pragmatischer Hinsicht anbieten. Sich mit „Insellösungen“ innerhalb einer dominierenden Wettbewerbslogik zufrieden zu geben, bedeutet langfristig das Ende von Vielfalt in Medien und Kultur. Rundfunkfreiheit, allgemein im Sinne des dualen Systems, besonders aber in seiner deutschen Ausprägung, muss im gesamten europäischen Rechtsrahmen präziser gefasst werden. Dafür braucht man das Bündnis mit anderen Kräften, die sich schon jetzt gegen die Dominanz wettbewerbspolitischer Interessen wehren.
Das Gespräch führte Karin Wenk