European Newspaper Congress in Wien: Amsterdamer Tabloid wurde „Europas beste Regionalzeitung“
Neuen Tendenzen im weltweiten Zeitungsgeschäft spürten an die 300 Blattmacher im April beim European Newspaper Congress in Wien nach. Der Siegeszug des Tabloids, dies einer der zentralen Trends, hält unvermindert an. Gleichzeitig geraten die Verlage zunehmend unter den Druck der Werbewirtschaft.
Ende 2003 ging es „Het Parool“ schlecht. Die Ende des Zweiten Weltkriegs als Widerstandsblatt entstandene Amsterdamer Regionalzeitung stand vor dem Aus. Innerhalb von 20 Jahren war die Verkaufsauflage um mehr als die Hälfte auf zuletzt 90.000 Exemplare zurückgegangen. Der Verlag entschloss sich zu einer Radikalreform, zur Umstellung auf Tabloid. Am 6. Mai 2004 erschien „Het Parool“ erstmals im neuen, handlichen Format. Mit Erfolg. Der Auflagensinkflug wurde gestoppt, bereits nach einem Jahr verkauft die Zeitung knapp 4.000 Exemplare mehr. Erstaunlicherweise, so berichtet Chefredakteur Erik van Gruithujsen, reagierten vor allem die älteren Leser ausgesprochen positiv. Sie nennen die Zeitung „handlich, praktisch im Gebrauch, lesbarer“. Auch mögen sie Fotos und Farbe. Nicht anfreunden mochten sie sich dagegen mit den anfangs verwendeten kleineren Schrifttypen. Hier musste nach drei Monaten nachgebessert werden. Hauptzielgruppe der Reform ist allerdings das jüngere Publikum des Großraums Amsterdam, namentlich die vielen Zuwanderer aus Marokko, der Türkei und Surinam. Das positive Beispiel von „Het Parool“ macht offenbar Schule. Fast alle großen niederländischen Verlage prüfen derzeit die Umstellung auf Tabloid.
„Leichtigkeit plus Seriosität“ attestierte die Jury des in Wien verliehenen 6. European Newspaper Award dem reformierten Blatt und zeichneten es als „Europas beste Regionalzeitung“ aus. Stardesigner Mario García lobte in einer Video-Botschaft das von ihm mitgestaltete Werk. „Die Zeit der großen Tageszeitung ist vorbei“, augurierte er. In etwa 15 bis 20 Jahren werde es keine Großformate mehr geben. „Daher ist Het Parool auf dem richtigen Weg.“
Preise für Tabloid-Design
Ob García mit seiner gewagten Prognose richtig liegt? Zumindest die Juryentscheidungen beim European Newspaper Award für vorbildliches Design deuten in diese Richtung. Allein vier von sechs Gewinnern in den Hauptkategorien sind in diesem Jahr Tabloids – also Zeitungen im halben Format, das früher eher mit Boulevard assoziiert wurde. Neben „Het Parool“ gehören dazu auch die norwegische „Bergens Tidende Söndag“ („Europas beste Wochenzeitung“) und der „Diario de Noticias“ aus dem spanischen Pamplona („Europas beste Lokalzeitung“). Als „beste überregionale Zeitung“ ausgezeichnet wurde „De Morgen“ aus Brüssel, und dem „Sentinel Sunday“ aus dem englischen Stoke-on-Trent (Auflage: 13.160 Exemplare) bescheinigte die Jury, auch ein kleines Blatt könne „ein sehr hohes Niveau beim Seitenlayout, beim Umgang mit Bildern und auch bei den Inhalten haben“.
Während europaweit die meisten Zeitungen mittlerweile auf das Kleinformat umgeschwenkt sind, gibt es in Deutschland – wie die Beispiele Springer und Holtzbrinck belegen – einen Trend zur Kreation von „Markenfamilien“, zu Spezialprodukten, die unterschiedliche Zielgruppen bedienen. „20 Cent“ gilt als einer der Vorreiter der Entwicklung eines solchen zielgruppenspezifischen Kleinformats. Das in Cottbus erscheinende Billigblatt spricht vorwiegend ein junges Publikum an. Mit jugendaffinen Formen und Inhalten: kurze Texte, Vierfarbdruck sowie einem Themenmix aus wenig Politik, dafür umso mehr Klatsch, Singlebörse und Service. Rund ein Jahr nach dem Start liegt die verbreitete Auflage bei 20.000 Exemplaren, darunter ein „relativ hoher Anteil Kombi-Abos“ mit dem Mutterblatt „Lausitzer Rundschau“, wie Chefredakteur Dieter Schulz in Wien bekannte. Eine „Kannibalisierung“ der Leserschaft des Mutterblatts werde bislang nicht beobachtet. Mit „20 Cent Saar“ wurde kürzlich der nächste Schritt zur anvisierten bundesweiten Expansion eingeleitet. Springer – Konkurrenz belebt das Geschäft – hat mit „Welt kompakt“ an der Saar ebenfalls nachgelegt.
Betonung des Visuellen
Die Zeitung als reines Textmedium – diese Zeit scheint endgültig vorbei. Vom Boulevard lernen – das bedeutet heutzutage in erster Linie eine stärkere Betonung des Visuellen. Mehr Infografik, mehr Fotos sowie ein großzügiges aufgelockertes Layout sind die zentralen Trends. Medium-Magazin-Chefredakteurin und Jury-Mitglied Annette Milz beobachtet bei den in Wien präsentierten Zeitungen vor allem eines: die Suche nach einer eigenen, kraftvollen Bildsprache. „Besonders spannend“ findet sie den „Trend hin zu magazinigen Elementen in einer wie auch immer gearteten klassischen Tageszeitung“. Als magazinige Elemente begreift sie etwa „einen sehr kreativen Bildschnitt“, wie ihn Leser bis dahin eigentlich nur von klassischen Publikumszeitschriften oder Special-Interest-Zeitschriften gewöhnt waren.
Führend bei der Umsetzung solcher Konzepte sind vor allem skandinavische und spanische Blätter. Wie aber schneiden die deutschen Zeitungen im internationalen Vergleich ab? Zeitungsdesigner Norbert Küpper siedelt sie im Mittelfeld an, mit vielen interessanten Ansätzen. Allerdings vermisst er „herausragende Arbeiten, besondere Kreativität“. Die könne man den Zeitungen oft nicht zusprechen, „weil es in Deutschland doch oft so ist, dass die gar keinen Art-Direktor haben, keine Layout-Abteilung“. Da machten dann eben Redakteure, die eher vom Text her denken, gute Seiten-Layouts, „aber nichts, wo man sagen kann, das ist ja Wahnsinn, herausragende Gestaltung, das ist halt doch eher Sache eines Designers, der dann bei deutschen Zeitungen oft fehlt“. Wie Milz fordert auch er von den Qualitätszeitungen eine „starke Betonung von Bildern, eine klare Seitengestaltung, präzise Überschriften sowie Humor“.
Stunde aggressiver Werbung
Eine andere, eher bedenkliche Entwicklung betrifft die zunehmende Aufweichung der bisherigen Trennung von redaktionellen und Werbeinhalten. Sinken Vertriebs- und Anzeigenerlöse der Zeitungen, schlägt die Stunde aggressiver Werbestrategen, meint Javier Errea, Direktor der Spanischen Sektion der Society of Newsdesign. Die frühere Regel, Werbung stets unten auf der Seite zu platzieren und als solche zu kennzeichnen, sei längst außer Kraft gesetzt. Halbseitige Adverts auf der Titel- oder Meinungsseite, Dreiecks- und Treppenanzeigen, trickreich eingepasst ins Seitenlayout – alles keine Seltenheit mehr. Sogar Farbanzeigen mitten auf der Seite oder gar verteilt auf zwei Seiten lassen sich entdecken.
Die spanischen Journalisten beschleiche allmählich das „mulmige Gefühl, nur noch für das Füllen der Anzeigenzwischenräume zuständig zu sein“, klagte Errea. Gelegentlich entstehe der Eindruck, finanzschwache Zeitungen setzten großformatige farbige Anzeigen auch aus Mittelknappheit anstelle von Illustrationen ein. Die Journalisten versuchten, sich dieser Kommerzialisierungstendenzen zu erwehren, stünden aber in den Verlagen vielfach auf verlorenen Posten. Die „Kreativität“ der Werbeprofis schlage dagegen immer kuriosere Kapriolen. So habe unlängst ein Markenhersteller bei einem grafisch unterstützten Spielbericht über ein Fußballmatch die Präsenz seiner Marke eingefordert.
Besonders krass auch die Kampagne einer Mobilfunktochter der spanischen Telefónica. Sie schaffte es, ihr Logo in Gestalt eines stilisierten M in die Überschriften ganz normaler redaktioneller Artikel einfließen zu lassen. Dies sei ein Beispiel dafür, wie von Seiten der Werbetreibenden Druck auf die Tageszeitungen ausgeübt wird. Einige Blätter hätten diese Art Werbung abgelehnt. „Marca“, die wichtigste Sporttageszeitung, hatte derartige Berührungsängste nicht. So sei eine Grenze beseitigt worden, die es in der seriösen Presse zwar wohl noch eine Weile geben werde. Errea: „Aber in Spanien ist diese kulturelle Schranke gefallen.“