In München tagte der 1. Europäische Dokumentarfilm- und TV-Kongreß
„Seid Realisten! Fordert das Unmögliche!“ hieß einer der flotten Sprüche der 68er Protestler, und mit nichts Geringerem wollten sich wohl die Veranstalter des 1. Europäischen Dokumentarfilm- und TV-Kongresses zufrieden geben, der jetzt in München drei Tage lang fast 400 Dokumentaristen aus aller Welt zu seinen Besuchern zählte.
Selber im Ruf von Experten in Sachen Realismus stehend, hatten sie sich versammelt unter einem Motto ihres berühmten Vordenkers Robert Flaherty: „You must show how a rose smells“, auch das nicht Sichtbare wie eben den Duft einer Rose sichtbar zu machen, dabei aber, wie der Ungar Dr. György Kárpáti ergänzte, auch den Schmerz nicht zu vergessen, den ihre Dornen verursachen können.
Zum Kongreß eingeladen hatten die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V. (a.g.dok) und das in Dänemark beheimatete European Documentary Network (EDN). Um den unabhängig produzierten Dokumentarfilm sollte es gehen, doch schon die Kongreßfirmierung verwies auf die Grenzen solcher Unabhängigkeit: Ohne die TV-Sender geht für Filmproduzenten fast gar nichts mehr, erst recht nicht auf dem Feld des Dokumentarfilms. Stichworte wie Formatierung und „slots“ (Sendeplätze) gehörten zum Standardvokabular des Kongresses, und von der einstmals geschlossenen Frontstellung – hie Dokumentaristen, dort Fernsehsender – waren nur noch verspätete Scharmützel gegen besonders gefürchtete TV-Repräsentanten zu vermelden. Daß gerade diese, allen voran Discovery Channel-Vizechef Chris Haws, ihre Rolle als Lieblingsfeind der meisten Kongreßteilnehmer mit sichtlichem Vergnügen spielten, trug ebenso wie die launige Moderation durch Roger Willemsen nicht wenig zum Unterhaltungswert der gesamten Veranstaltung bei.
Rund 20 000 Stunden dokumentarischen Filmmaterials, so hat Haws einer Studie entnommen, strahlen allein die europäischen TV-Sender jährlich aus. Das hört sich zwar nach einem gewaltigen „Markt“ für die Dokumentaristen an, doch schon die pro-Kopf-Verteilung auf jeden von ihnen erbrächte magere 18 Sendeminuten jährlich. Das reicht nicht fürs Brot, allenfalls für Krümel, zumal sich auch für Dokumentarfilme mit Millionenbudgets oft nur magere 5000 Dollar für Sendelizenzen erlösen lassen, wie der international renommierte Filmvertreiber Jan Roefekamp berichtete. Yves Jeanneau, Produzent aus Frankreich, sieht sich gar in einem „20-jährigen Guerilla-Kampf um den unabhängigen Dokumentarfilm“. Da verwundert es nicht, daß seine britische Kollegin Jane Balfour sich schon Gedanken macht, ob man die Dokumentaristen als aussterbende Art wie in einer Genbank für die Nachwelt erhalten muß.
Immerhin erfreulich: Während in den meisten Ländern der Dokumentarfilm im Kino faktisch nicht mehr existiert, gibt es in skandinavischen Ländern und vor allem in den Niederlanden zunehmend Initiativen, einzelne Programmschienen oder gar ganze Kinos diesem Genre zu reservieren. Allzu optimistisch darf man freilich auch hier nicht sein, wie die Leiterin des Amsterdamer Festivals IDFA, Ally Derks, in München warnte; und ihre Kollegin Jolanda Klarenbeek, die das höchst erfolgreiche, dem IDFA angegliederte Koproduktionsforum leitet, resümierte ihre Erfahrungen so: „Die treibende Kraft für die Dokumentaristen bleibt der Markt, und den bestimmt nun einmal im wesentlichen das Fernsehen.“
Und der viel gepriesene technische Fortschritt? DVD, Internet, globale Vernetzung? Ausgerechnet Richard Leacock, eine der Galionsfiguren des klassischen Dokumentarfilms, tat in einer per Tonband übermittelten Grußbotschaft seinen Enthusiasmus über die sich neu auftuenden Chancen dar: „Wir werden jede Art von Film auf DVD machen und an die Zuschauer bringen können, auch ohne das große Geld.“ Ein erstes, ausschnittweise eingespieltes Beispiel des Schweizers Christian Iseli ließ allerdings von den neuen Möglichkeiten nicht mehr erkennen als schier unbegrenzte technische Spielereien, die Leacock kaum gemeint haben dürfte. Doch der auch für die Kongreßorganisatoren Dr. Wilma Kiener und Dieter Matzka überraschend starke Andrang in München darf als Zeichen gewertet werden, daß die unabhängig produzierenden Dokumentaristen das Feld technischen Fortschritts nicht kampflos den großen Medienanstalten und -konzernen überlassen wollen.