Weder Skandalisierung noch Verharmlosung

14. Journalistinnen- und Journalistentag der Fachgruppe Journalismus am 25. November 2000 in Hannover diskutiert über Medien und Gewalt

Verbreiten die Medien zuviel Gewalt? Vermitteln sie vor allem Gewalt – sei es in den Nachrichten, sei es im Samstagabendkrimi oder in der Nachmittagsserie – als Mittel zur Lösung von Konflikten? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Information über Gewalttaten und der nächsten Tat „im richtigen Leben“. Welche Verantwortung haben Medienmacher und Programmgestalterinnen, haben Journalistinnen und Journalisten – und welche die Konsumenten, die Eltern und Erzieher?

Zu ihrem 14. Journalistinnen- und Journalistentag – diesmal in Hannover im Kleinen Sendesaal des Norddeutschen Rundfunks – hatte die Fachgruppe Journalismus (IG Medien) namhafte Referentinnen und Referenten zu dem Thema „die permanente Lust an der Gewalt – Welche Rolle spielen die Medien und ihre Helden für die Konflikte des Alltags“ eingeladen. Prof. Wolfgang Gast, Uni Gießen, die Kommunikationswissenschaftlerin Dr. Jutta Röser, Uni Bochum, Dr. Ingo Scheller, Pädagoge und Psychologe aus Oldenburg, Superintendentin Oda-Gebbine Holze-Stäblein und die stellvertretende Vorsitzende des niedersächsischen Landeselternrats Lisa Eichendorf diskutierten unter der Leitung von Manfred Protze, dem stellvertretendern Bundesvorsitzenden der Fachgruppe Journalismus (dju/SWJV) – noch einmal besonders motiviert durch aktuelle Berichte (zum Beispiel über Sebnitz) und Ereignisse – mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Orientierungsrolle der Massenmedien für den Umgang mit alltäglicher Gewalt – auch auf dem Hintergrund wissenschaftlicher Fragestellungen und Untersuchungsergebnisse.

Robespierre und Herostrat – oder: Wann darf ich einen Journalisten erschießen?

Einig waren sich die Referentinnen und Referenten in der Ablehnung eindimensionaler Erklärungsversuche. Die Beziehungen zwischen dem Zuschauer, dem Rezipienten, und der Darstellung im Medium sei eine wechselseitige, bestimmt durch Stellung und Erfahrungen des Individuums in seinem gesellschaftlichen Umfeld, die auch bestimmen, welchen Gebrauch es von dem macht, was Medien ihm servieren. Es müsse heute eher gefragt werden, welche Rezeption und welche Wirkung der Medien werden durch welche Formen und Mittel medialer Darstellung von Gewalt und gewaltsamen Konfliktlösungen nahegelegt, gefördert , suggeriert oder provoziert – so Wolfgang Gast in seiner Analyse, belegt an Filmbeispielen. Beteiligt – so seine zu belegende These – sind Produzenten und Rezipienten als aktive Teilnehmer der Medienkommunikation und damit beide in der Verantwortung dafür, was letztendlich dabei herauskomme – auf der Einstellungs-, aber auch auf der Handlungsebene. An dem Filmklassiker „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ demonstrierte er die Wirkungsweise des sogenannten Robespierre-Effekts: Nicht der Mörder, der Ermordete ist der Schuldige. Die demonstrierte strukturelle Gewalt und das Leiden des Opfers rechtfertigen die personale Gewalt gegen die Täter. Gleichzeitig dient er als Beleg für die Wirkung der sogenannten Stimulationsthese über die Wirkung von Gewalt: „Mediengewalt stimuliert Aggressionsbereitschaft und Gewalttätigkeiten (und auf der Kehrseite: Ängste), wenn entsprechende Dispositionen, ein entsprechender Erwartungshorizont schon aufgebaut sind“ – wie die Reaktionen des Publikums bei der Aufführung des Films: Beifall für den Mord an dem vorher als überaus skrupellos und manipulativ gezeigten Journalisten -, zeigen. Den Produzenten überträgt Gast dabei die Verantwortung für diese erwartbaren und etwaige weitere Reaktionen des Publikums, zumal die Gewaltwirkungsforschung hier von der Hypothese eines Kumulations- und Habituierungsprozesses ausgeht: „Je häufiger, intensiver und unwidersprochen Gewaltformen in Medien präsentiert und gerechtfertigt werden, um so eher tritt ein Gewöhnungseffekt ein.“ Das entlaste aber nicht den Rezipienten von Verantwortung: Blinde Übernahme auch suggestiv vermittelter Zuschauerrollen habe nichts Zwangsläufiges, sondern könne durch Aufklärung/Kompetenz vermieden werden.

An dem fast willkürlich herausgegriffen ZDF-Samstagabendkrimi „Jenny Berlin – Ende der Angst“ untersuchte Gast einige eher verborgene, aber häufig anzutreffende Mechanismen des medialen Angst- und Gewalttransfers via Fernsehens. Auch in diesem Beispiel stoßen wir auf den oben beschriebenen Robespierre-Effekt, der den Täter in die Rolle des Opfers rutschen läßt, in diesem Film wird er aber noch durch ein zweites Motiv überlagert, welches für die Gewalt-Rezeption eine bedeutende Rolle spielen kann: den „Herostrat-Appeal“ – ein „Nichts, ein Nobody“ will Ruhm durch eine unerhörte Tat erlangen, dazu muss er seine Tat nur moralisch motivieren.

Der Mythos einer eigentlich friedfertigen Gesellschaft

Jutta Röser, die aufbauend auf ihrer jüngst veröffentlichten Untersuchung über „Fernsehgewalt im gesellschaftlichen Kontext“ (Wiesbaden November 2000) über populäre Mediengewalt, über Angst und hierarchische Weltbilder in diesem Zusammenhang sprach, stellt die Frage: Ermuntern Medienszenarien Zuschauer dazu, selbst Gewalt auszuüben oder zu billigen? Sie hält diese Aggressionszentrierung für nicht gerechtfertigt. Die Frage nach den Wirkungen von Gewalt müsse geöffnet werden, andere Dimensionen von Wirkung ins Blickfeld gerückt werden. Es dürfe nicht aus den Augen verloren werden, dass wir keineswegs in einer gewaltfreien Gesellschaft leben. Die Kritik an Mediengewalt gehe in weiten Teilen von einem Denkmodell aus, wonach wir in einer potenziell friedfertigen Gesellschaft lebten, in die Gewalt quasi von außen hineingetragen werde – durch die Medien. In unserer Gesellschaft finde aber im ganz normalen Alltag regelmäßig Gewalt statt.

Ihr Fazit: „Statt Mediengewaltszenarien als irreale Konstrukte zu behandeln, geht es darum, Gesellschaft, Medienszenarien und ihre Rezeption als aufeinander bezogenes Ganzes zu betrachten. Mediengewalt im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, lenkt den Blick auf alltägliche Gewalt, auf das Erleben von Angst, Ohnmacht und Marginalisierung, sowie nicht zuletzt auf das Geschlechterverhältnis und den überaus problematischen männlichen Dominanzanspruch.“

Kompensation und Legitimation von Verhaltensdefiziten

Einen ähnlichen Ansatz vertrat auch der Psychologe und Pädagoge Ingo Scheller: „Gewaltsituationen werden vor allem deshalb als bedrohlich erlebt, weil hier das eigene Handlungsrepertoire nicht mehr funktioniert.“ Ängste würden wachgerufen, die Produkte von Erfahrungen in Familie, Schule, Freizeit und Arbeitswelt seien. Es fehlen alternative Erfahrungen und Handlungsstrategien, um in bedrohlichen Konfliktsituationen verantwortungsbewusst und gewaltfrei handeln zu können. „Dass wir und vor allem Kinder und Jugendliche solche Erfahrungen mit Empathie, Solidarität und gelungenen Konfliktregelungen im Alltag und in Gewaltsituationen so selten gemacht haben, liegt an einer sozialen Realität, – in der (unter anderen genannten Ursachen) Konflikte häufig nicht mehr offen ausgetragen werden, ….und in der immer weniger Räume für körperliche Erfahrungen und das körperliche Austragen von Emotionen, Bedürfnissen und Interessen zur Verfügung stehen.“ Die vielfältigen, sich häufig widersprechenden Angebote und Anforderungen der Waren- und Medienindustrie böten zwar Selbstdarstellungs- und Verhaltensmuster, gemeinsame Aktivitäten und Erfahrungen würden aber weder zugelassen noch notwendig gemacht. Medien inszenierten eine Vielzahl widersprüchlicher und sich widersprechender Botschaften, die sich die Rezipienten nach Belieben erzappen könnten. „Während zum Beispiel in Nachrichtensendungen und politischen Dokumentationen körperliche Gewalt als Mittel der Konfliktregelung geächtet wird, ist diese in Actionfilmen zentrales Mittel der Konfliktaustragung.

Der Medienkonsum reduziere „soziale Konflikterfahrungen auf virtuelle. Auch wenn dadurch ein größeres Konfliktbewusstsein entstehen könnte, nicht oder weniger entwickelt wird dadurch die Fähigkeit, sich mit Menschen in Konfliktsituationen sprachlich und körperlich auseinander zu setzen und zu einem Interessenausgleich zu kommen.“

„Faszination des Guten“

Auch Oda-Gebbine Holze-Stäblein, vielen Zuschauern auch aus dem Fernsehen bekannt („Wort zum Sonntag“) ging in ihren Thesen von der Feststellung aus: „Gewalt ist ein Teil des Lebens und ein Teil der Welterfahrung, dem sich niemand entziehen kann“. „Gewalt ist ubiquitär“ – formulierte sie, „aber ist sie auch omnipotent?“ Sie stellte einen Kriterienkatalog zum Umgang auch mit Darstellung von Gewalt auf, in dem es u.a. darum geht, „Das Leben lernen heißt auch, den Umgang mit der Gewalt lernen… diese Seite wahrnehmen, aber nicht siegen lassen, Gewalt nicht ins Ausweglose führen und die Identifikationsfigur allein lassen, soziale Qualitäten und Tugenden entwickeln und als Stärken begreifen“ Sie endete mit der – an die Medien gerichteten – Frage: „Es gibt auch eine Faszination des Guten. Wer macht sich die Mühe, gute Taten und gewaltlose Helden genauso packend in Szene zu setzen wie die Gewalt?“ An ihre Schlussfolgerung – „Der heimliche Lehrplan darf nicht sein, dass Gewalt eben doch omnipotent ist und man gegen sie keine Chance hat, sie deshalb selbst anwenden muss, um zu siegen“ – konnte die Elternvertreterin Lisa Eichendorf nahtlos anknüpfen, wird sie doch an den Schulen immer wieder mit der Gewaltproblematik konfrontiert. „Es wäre zu einfach, die Schuldproblematik der vielfältigen Gewaltphänomene den Medien und damit den Journalistinnen und Journalisten anzulasten“, konzediert sie den bisher vorgetragenen Untersuchungsergebnisssen. Dennoch konstatiert sie Hilflosigkeit bei Eltern und Pädagogen und wünscht sich für den Erziehungs- und Entwicklungsprozess der Kinder zu verantwortungsbewussten selbstständigen Menschen weitergehende Unterstützung, darunter auch eine veränderte Lehrerausbildung, die auf die speziellen Probleme der Schule und auch auf den Medienkonsum, das Medienverhalten und die Medienerfahrungen der Jugendlichen besser vorbereitet.

Frühwarnsystem der Gesellschaft

Auf die Aufgaben des Journalismus in diesem Zusammenhang ging abschließend noch einmal Franziska Hundseder ein, die Bundesvorsitzende der Journalistinnen und Journalisten in der IG Medien: „Journalismus muss eine Art Frühwarnsystem der Gesellschaft sein. Er muss frühzeitig auf gesellschaftliche Entwicklungen hinweisen und Themen nicht nur dann aufgreifen, wenn sie sich sensationell präsentieren lassen. Auch der konjunkturelle Aufschrei nach spektakulären Gewalttaten reicht nicht aus.

Journalismus muss auch Politiker beim Wort nehmen und hinterfragen, ob es nicht nur Lippenbekenntnisse sind, wenn sie rechtsextreme Gewalt ächten, aber auf der anderen Seite verharmlosend von einem „Spuk“ sprechen wie Roland Koch oder die Angstgefühle in der Bevölkerung systematisch mit dem Blick auf kommende Wahlen aufgreifen und verstärken. Wenn Politiker von „Leitkultur“ sprechen, sondern sie bewusst rhetorische Geschosse ab, deren mediale Ballistik strategisch auf kommende Wahlkämpfe berechnet ist. Wenn Wahlkämpfe auf dem Rücken von Ausländern gemacht werden, braucht man sich nicht wundern, wenn Gewalttäter die Stichworte aufgreifen und in die Tat umsetzen. …Die Gewalt, auch die rechtsextreme, springt nicht wie ein Schachtelteufel aus der Box. Diejenigen, die stets Medien für die ubiquitäre Gewalt verantwortlich machen, übersehen, dass diese Gewalt aus gesellschaftlichen Verhältnissen kommt, aus einem unwirtlichen Schoß der Gesellschaft, und dass Gewalt Ausdruck von gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen ist.“

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