Digital, lokal, „o-ha!“: Merkurist.de

European Newspaper Congress in Wien Foto: Medienfachverlag Oberauer/APA-Fotoservice

In Mainz ist Merkurist.de schon seit Juli 2015, in Wiesbaden seit ein paar Wochen und für Juli ist der online-Start in Frankfurt geplant. Manuel Conrad, einer der Gründer von Merkurist.de, beschreibt auf dem European Newspaper Congress (ENC) in Wien seine Firma als „Deutschlands heißestes Journalismus-Startup“ und als „erstes Nachrichtenportal, bei dem die Leser aktiv an den Nachrichten mitarbeiten können“. Erklärtes Ziel: „In alle 200 Städte gehen, die nur noch eine Zeitung haben“, so Conrad. Die Paywall sei Quatsch. Dennoch, so der Betriebswirtschaftler, könne man mit einem leserorientierten, interaktiven Konzept und gutem Lokaljournalismus Geld verdienen.

Algorithmen entscheiden

Und so funktioniert es: Leser erstellen so genannte Snips mit Beobachtungen aus ihrem lokalen Umfeld. Diese Snips können von allen Lesern mit Zusatzmaterial in Form von Fotos, Videos, Fragen, Informationen oder Kommentaren ergänzt werden. Durch Klick auf den „o-ha!“-Button signalisieren Leser, dass sie sich für ein bestimmtes Thema interessieren. Erzeugt ein Thema genügend Interesse, wird es von einem professionellen Journalisten zum Artikel ausgebaut und steht dann auf der Plattform zur Verfügung. Social Journalism nennt das Mainzer Startup diese Form des interaktiven Arbeitens.
Hinter diesem auf den ersten Blick sehr konsumentenfreundlichen Angebot steht ein ausgeklügeltes technisches System, das z.B. ein Tool zur Auswertung der Nutzungsdaten enthält. So ermittelt ein Algorithmus die beste Kombination aus Überschriften und Bildern für einen Artikel; ein anderer kann das Leseverhalten des Kunden detailliert auswerten; einer erkennt Schwachstellen im Artikel und wieder ein anderer analysiert wichtige Daten für Werbekunden… So funktioniert Big Data im Journalismus. Die Verwendung von Bildern aus Facebook, Twitter, Flickr & Co. wird im „Kleingedruckten“ kurz hingewiesen, die aktiven Leser_innen tragen ja auch fleißig Bilder und Infos bei.

Bezahlung nach Leserverhalten

Und die Redakteur_innen und Autor_innen von Merkurist? Die bekommen einen Bonus, wenn ihre Artikel oft und/oder ausführlich gelesen wurden… Birgt das nicht die Gefahr, dass z.B. die neue Liebschaft des Platzwarts von Mainz 05 eher ein „Thema“ auf Merkurist.de wird als z.B. ein lokalpolitischer Super-GAU? Betriebswirtschaftler Conrad wiegelt ab: „Nein, nein – die Leser sind kompetent genug, über ihr Informationsbedürfnis zu entscheiden.“ Die Redaktion sehe sich „als Polizei, die Themen in die richtigen Bahnen lenkt“, so Conrad.
Über sich selbst sagt der Mitgründer, er sei Journalismus-affin, aber kein guter Schreiber. Dennoch ist er als einer der derzeit 13 Autor_innen auf der Seite aufgeführt. Und im Bereich „Karriere“ auf der Merkurist-Website heißt es: „Die Journalisten können sich für die Themen, über die sie gerne berichten möchten, direkt über die Plattform bewerben. Auf Basis ihrer journalistischen Erfahrung und der Anzahl der Texte (…) durchlaufen sie eine Karriere und dürfen mit der Zeit immer kompliziertere Themen und längere Textaufträge bearbeiten. Faire Bezahlung für gute Journalisten ist ein wichtiger Gedanke hinter Merkurist. Erfahrung, Leistung und Qualität werden bei uns besonders honorriert.“ Echt honorrig!
Willkommen in der Zukunft des Journalismus! Bei Merkurist.de heißt das „Journalismus als Prozess denken“ und „Der Leser ist der Kern des Handelns“ und „Die Marke ist der Schlüssel“.

Leser wird registriert und durchleuchtet

Auf geht’s: Beim ersten Klick auf Merkurist.de wird abgefragt, ob mein Standort an die Website weitergemeldet werden darf. Dann muss ich mich registrieren und werde eingeladen, „Teil einer neuen Journalismus-Bewegung“ zu werden. Und -schwupps – bin ich als Leserin in der Statistik, neben den anderen 8.000, die sich für Mainz bis jetzt angemeldet haben. Sofort werde ich abgefragt, welche Region(en) und Themen mich interessieren. Und dann werden mir Beiträge angeboten, die ich bei Interesse mit „o-ha!“ kennzeichnen kann. Neben „Matrosen schlagen Radfahrer zusammen“, das aktuell mit 65,5 % Leserinteresse bedacht ist, oder der Sperrung der A60 übers lange Wochenende (19,2%), findet sich ganz oben ein Artikel „Rasenpflege ganz entspannt“ – der geht ganz ohne „o-ha!“ auf und ist schon komplett recherchiert, geschrieben und gestaltet. „Gesponsert“ steht klein neben dem Titel. Leider habe ich keinen Garten. Und welcher der angebotenen Artikel für mich nun wichtig sein könnte, weiß ich immer noch nicht. Als Zugezogene könnte ich etwas mehr Orientierung gut gebrauchen.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »

Mit Recht und Technik gegen Fake News

Als „vielleicht größte Gefahr“ in der digitalen Welt sieht die Landesanstalt für Medien NRW (LFM) die Verbreitung von Desinformationen. Insbesondere gilt das für die Demokratische Willensbildung. Daher wird die Aufsichtsbehörde ihren Scherpunkt im kommenden Jahr genau auf dieses Thema richten. Aber wie kann man der Flut an Fake News und Deep Fakes Herr werden?
mehr »

Süddeutsche ohne Süddeutschland?

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) will sich aus der Regionalberichterstattung in den Landkreisen rund um München weitgehend zurückziehen. Am Mittwoch teilte die Chefredaktion der SZ zusammen mit der Ressortleitung den rund 60 Beschäftigten in einer außerordentlichen Konferenz mit, dass die Außenbüros in den Landkreisen aufgegeben werden und die Berichterstattung stark zurückgefahren wird. Dagegen wehrt sich die Gewerkschaft ver.di.
mehr »

Games: Welcome to Planet B

Die Bürgermeisterin muss sich entscheiden: Soll zuerst ein Frühwarnsystem vor Springfluten eingerichtet oder neue Möglichkeiten zum Schutz vor Hitze geplant werden? Und sollen diese neuen Schutzmaßnahmen besonders günstig oder lieber besonders nachhaltig sein? Was wie Realpolitik klingt ist ein Computerspiel. Denn immer mehr Games setzten sich auch mit Umweltthemen auseinander.
mehr »