Die größte ungarische Qualitätstageszeitung, die „Népszabadság“, wurde am vergangenen Wochenende unerwartet mit sofortiger Wirkung eingestellt, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurden die Entlassung und ein Hausverbot ausgesprochen. Der Herausgeber spricht von wirtschaftlichen Zwängen, doch die Redaktion vermutet eine politische Einflussnahme – und will jetzt autonom weiter arbeiten. Über die sozialen Netzwerke haben empörte Abonnentinnen und Abonnenten indes einen Aufruf zu einer Demonstration gegen diesen „Medienputsch“ verbreitet, dem bereits mehrere Tausend Menschen gefolgt sind.
Es war einer der „fiesesten Streiche“ in der jüngsten ungarischen Mediengeschichte, wie eine Leserin über die sozialen Netzwerke kommentierte. Am vergangenen Samstagnachmittag wurden plötzlich die Diensthandys und Computer der Redaktion gesperrt. Die Webseite der Zeitung, nol.hu, war nicht mehr abrufbar, statt Inhalten konnte man unter dieser Adresse lediglich eine kleine Mitteilung lesen: Die „Népszabadság“, zu Deutsch „Volksfreiheit“, wird ab sofort eingestellt. Unmittelbar danach erhielten die rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine kleine Notiz, in der ihre Entlassung angekündigt und ein Hausverbot mit sofortiger Wirkung ausgesprochen wurde. Als Begründung führt die Herausgebergesellschaft Mediaworks Zrt. wirtschaftliche Überlegungen an. So habe das Blatt in den letzten Jahren Verluste gemacht, die Auflage sei geschrumpft, eine Anpassung an die Nachfrage des Marktes, und somit eine massive Umstrukturierung ließen sich nicht mehr vermeiden.
Die Redaktion, aber auch Abonnentinnen und Abonnenten reagierten schockiert und wütend auf die Nachricht. Über die sozialen Netzwerke verbreitete sich blitzschnell ein Aufruf zum Protest, mehrere Tausend Menschen demonstrierten bereits am gleichen Abend gegen den „Medienputsch“. Schließlich handelt es sich um die auflagenstärkste ungarische Qualitätstageszeitung, deren Ansehen und Orientierung dem der „Süddeutschen Zeitung“ entsprechen. Hinter dem völlig unerwarteten und ungewöhnlichen Schritt der Herausgeber vermuten die meisten regierungskritischen Kommentatoren politische Einflussnahme. In der Tat ist die offizielle Begründung alles andere als überzeugend: Die traurige wirtschaftliche Lage der Printmedien ist in Ungarn und darüber hinaus längst kein Geheimnis mehr, doch bei der Népszabadság sah es 2015 nicht zuletzt dank der kritischen Berichterstattung sogar besser aus als bei den regierungsnahen Blättern. Die meisten Mitglieder der Redaktion zeigen sich nicht nur um ihre eigene Zukunft besorgt, sondern auch um die Qualität der ungarischen Demokratie. „Wenn dies ein entwickeltes Land wäre, und kein Vergnügungspark, dann könnte so etwas nie passieren. Dann könnten wir nämlich über die Affären der Regierungsmitglieder frei berichten“, sagt etwa Péter Petö, bis vor Kurzen stellvertretender Chefredakteur der Zeitung.
Mit der plötzlichen Einstellung unternimmt der Herausgeber außerdem einen radikalen Schritt, der einem Verlust der bisherigen Leserschaft und einem Aus für Blatt gleichkommt. Branchenüblich wäre hingegen selbst in Ungarn eine gut vorbereitete Umstrukturierung, die wenigstens den Anschein der Kontinuität behält. Die Entscheidung ist auch deshalb schwer nachvollziehbar, weil es sich bei der „Népszabadság“ um eine fast 60 Jahre alte Marke handelt, mit der sich ein Großteil des linken und linksliberal gesinnten Publikums auch emotional identifizierte. Vor der Wende diente das Blatt nämlich als Zentralorgan der ungarischen KP, ab 1989 gehörte es einige Jahre der Stiftung Freie Presse, über die die neue sozialistische Partei MSZP eine gewisse, wenn auch nicht direkte Kontrolle über die publizistischen Inhalte behielt. Die Zeitung entwickelte sich dann in den frühen 1990er Jahren zu einem autonomen, linksliberalen Referenzblatt in der ungarischen Medienlandschaft, die Anteile am herausgebenden Unternehmen gehörten unter anderen der Bertelsmann AG, dem schweizerischen Konzern Ringier und dem Axel-Springer-Verlag.
2014 erfolgte dann eine Übernahme durch die Beteiligungsgesellschaft Vienna Capital Partners (VCP), die dem österreichischen Finanzinvestor Heinrich Pecina gehört und auch andere Medien und Unternehmen in Ungarn und in der ganzen Region kontrolliert. Pecina gilt als rechtskonservativ, zu seinen ungarischen Geschäftspartnern zählen diverse Figuren aus regierungsnahen Kreisen. Einen klaren Beweis dafür, dass die Machthaber in Budapest die Finger in diesem traurigen Spiel hätten, gibt es im Moment nicht, obwohl der stellvertretende Vorsitzende der Fidesz, Szilárd Németh, am vergangenen Sonntag mit der seltsamen Äußerung auffiel, es sei an der Zeit gewesen, dass die „Népszabadság“ überraschend eingestellt wird.
Unterdessen versucht die Redaktion seit drei Tagen, ihre Arbeit in einer neuen Form wieder aufzunehmen. Zunächst wurden die eingeplanten Artikel, unter anderen auch die Fortsetzung einer investigativen Serie über die Verwicklung von Fidesz-Funktionären in Korruptionsaffären, in den sozialen Netzwerken gepostet. Die Verhandlungen mit dem Herausgeber sind am vergangenen Montag endgültig gescheitert, jedes Mitspracherecht wurde den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aberkannt. Die Redaktion hofft jedoch, innerhalb der nächsten Wochen eine autonome, Internet-basierte Lösung zu finden.
Nachtrag am 26. Oktober 2016: Der österreichische Unternehmer Heinrich Pecina hat laut Pressemeldungen den Verlag Mediaworks Zrt., in dem „Népsabadság“ bis zur Einstellung herausgegeben wurde, an das ungarische Unternehmen Optimus Press verkauft. Der neue Eigentümer soll zum Firmengeflecht des ungarischen Oligarchen Lörinc Meszaros gehören – einem Vertrauten von Ministerpräsident Viktor Orbán. (Red.)