Eine Zeitlang war Nacktheit im Fernsehen auch dank vieler freizügiger Angebote der Privatsender so normal, dass sich kaum noch jemand daran zu stören schien. Mittlerweile hat sich der Trend jedoch derart ins Gegenteil gekehrt, dass das nudistische RTL-Format „Adam sucht Eva“ zur Ausnahme wird. Liegt es am Zeitgeist, erregt nackte Haut in Zeiten von YouPorn keine Aufmerksamkeit mehr oder sitzen an den entscheidenden Stellen bei den Sendern inzwischen viel mehr Frauen als früher, weshalb der männliche Blick nicht mehr dominiert?
Mindestens die Hälfte der klassischen Fernsehskandale hatte lange mit Sex zu tun. Den Auftakt dieser Chronik markierte 1961 die entblößte Brust von Romy Schneider in „Die Sendung der Lysistrata“ (Regie: Fritz Kortner, ARD). Die erste Nacktszene in einem Fernsehspiel wurde auch deshalb als „sittlich anstößig“ empfunden, weil sich der Film kritisch mit Atomwaffen auseinandersetzte. In den Siebzigern gerieten angesichts der nackten Brüste von Ingrid Steeger im Comedyformat „Klimbim“ (1973 bis 1979) nur noch pubertierende Jungs in Wallung. Für Skandale sorgten nun Küsse zwischen Männern, etwa in Wolfgang Petersens Schwulendrama „Die Konsequenz“ (ARD 1977) oder selbst in den Achtzigern noch im ARD-Dauerbrenner „Lindenstraße“ (1987). Sex im Fernsehen, sagt Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger, sei jedoch stets Sex aus männlicher Sicht gewesen: „Die sexuelle Befreiung des Familienmediums Fernsehen war eine sexuelle Befreiung für den Mann, so wie sexuelle Darstellungen schon immer durch den männlichen Blick dominiert worden sind. Heutzutage, da YouPorn in dieser Hinsicht alle Wünsche erfüllt, lohnt es sich für das Fernsehen nicht mehr, noch auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen.“
Sex findet heute in der Regel unter der Decke statt
Tatsächlich wird Nacktheit im Fernsehen seltener, jedenfalls auf den wichtigen Sendeplätzen der großen Programme. Früher wurden Autoren bei Drehbuchbesprechungen regelmäßig aufgefordert, noch eine knackige Sexszene einzubauen; heute findet der Sex im Fernsehfilm in der Regel unter der Decke statt. Hallenberger sieht den entscheidenden Grund für diese Entwicklung in einem neuen Puritanismus: „Seit Jahren bescheinigen die Shell-Studien jungen Menschen eine Rückkehr zu klassischen Biedermeier-Werten. Sie schätzen Treue als hohes Gut. Sex im Film oder in der Werbung war das Symbol eines den Sinnen und der Welt zugewandten Lebens, in dem Lust und Genuss im Vordergrund standen. Diese Zeiten sind vorbei; nackte Haut hat für viele Zielgruppen keinen Reizwert mehr oder ruft sogar Ablehnung hervor, und natürlich hat sich auch in den Redaktionen das Bild der Geschlechterrollen geändert.“
Leitende Frauen bestreiten These vom TV-Puritanismus
Bis auf wenige Ausnahmen werden sämtliche Fernsehfilmabteilungen von Frauen geleitet, aber ausgerechnet sie bestreiten die These vom neuen TV-Puritanismus vehement. Heike Hempel, stellvertretende Programmdirektorin des ZDF, und Barbara Buhl, Leiterin der WDR-Programmgruppe Fernsehfilm und Kino, bezweifeln übereinstimmend, dass Nacktheit aus dem Fernsehen verschwinde. Besonders deutlich wird Christine Strobl, Geschäftsführerin der unter anderem für die Donnerstags- und Freitagsfilme im „Ersten“ verantwortlichen ARD-Tochter Degeto: „Es gibt keinen neuen Fernseh-Puritanismus, das ist Nonsens. Nacktheit findet ganz selbstverständlich statt, wenn sie erzählerisch Sinn macht. Nacktheit des Tabubruchs wegen oder aus voyeuristischen Gründen interessiert uns nicht.“ Hempel widerspricht zudem der Vermutung, Frauen in Schlüsselpositionen hätten maßgeblichen Anteil daran, dass es weniger Nacktheit gebe. Es gehe in den Filmen und Serien immer darum, „wie Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Sexualität erzählt werden; und wie die Haltung der Figuren dazu ist. Daraus entsteht dann hoffentlich ein Gefühl von Modernität und Selbstverständlichkeit.“ Buhl bestätigt immerhin, dass sich „durch ein verändertes und differenzierteres Rollenverständnis von Männern und Frauen auch die Darstellung von Sexualität und Nacktheit verändert hat. Heute wird anders erzählt als in früheren Fernsehfilmen.“
Nackt inmitten angezogener Menschen am Set
Tatsache ist aber auch: Viele Schauspieler wollen sich nicht mehr nackt vor der Kamera zeigen, weil sie wissen, dass die Aufnahmen spätestens nach der TV-Ausstrahlung im Internet landen. Gerade für Schauspielerinnen wäre weniger Nacktheit im Fernsehen eine gute Nachricht, schließlich sind in der Regel sie es, die sich unter die Dusche stellen müssen, auch wenn das für die Handlung völlig unerheblich ist. Man kann sich vorstellen, dass so etwas nicht einfach ist, wie Barbara Auer bestätigt: „Wir sind es als Schauspielerinnen zwar gewohnt, uns preiszugeben, aber buchstäblich nackt zu sein – und das ja immer inmitten angezogener Menschen am Set –, erfordert viel Mut.“ Voraussetzung für solche Aufnahmen seien „absolutes Vertrauen und eine eindeutige Verabredung“.
Schauspielerinnen berichten allerdings auch von Fällen, in denen sich Regisseure nicht an diese Verabredungen gehalten hätten. Bei Nacktaufnahmen sei versichert worden, dass die Nacktheit im fertigen Film nur zu erahnen sei; und dann sei doch alles zu sehen gewesen. Eine andere erinnert sich, wie ein Regisseur beim Dreh einer Sexszene einen „richtig blöden Machospruch“ von sich gegeben habe. Eine dritte stellt fest: „Niemand sagt dir, dass du deiner Karriere schadest, wenn du dich nicht ausziehst, aber das ist auch gar nicht nötig, weil du dir diese Frage selbst stellst.“ Hans-Werner Meyer, Vorstandsmitglied im Bundesverband Schauspiel, glaubt zwar nicht, dass das Fernsehen prüder geworden sei, und belegt dies mit den Serien „Babylon Berlin“ (Sky/ARD) und „Bad Banks“ (Arte/ZDF), hofft allerdings, dass „die Zeiten, in denen ein Regisseur eine Schauspielerin unter Druck setzt, damit sie sich auszieht, vorbei sind.“
Kein Zusammenhang zur MeToo-Debatte
Etwaige Zusammenhänge zwischen dieser Entwicklung und der MeToo-Debatte weist die frühere TV-Kritikerin und heutige Programmdirektorin Fernsehen bei der Deutschen Kinemathek, Klaudia Wick, jedoch zurück: „Es gibt einen missbräuchlichen Umgang mit Frauen am Set, weil männliche Regisseure offenbar der Meinung sind, es sei für ihren Film von Vorteil, wenn es auch hinter der Kamera erotisch knistert. Das ist ein ungleicher Kampf, weil die Frauen in einem Abhängigkeitsverhältnis zum männlichen Regisseur stehen. Die Frage, ob die Filme jetzt prüder werden, weil Schauspielerinnen sich gegen diesen Missbrauch wehren, empört mich, denn sie vermischt zwei völlig unterschiedliche Dinge. Die Vergewaltigung der Hauptdarstellerin ist doch keine Voraussetzung für den Dreh einer erotisch aufgeladenen Filmszene. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Es geht darum, dass sich die Schauspielerin am Set sicher und selbstbestimmt fühlen kann. Nackt und angezogen.“