Die MIPCOM in Cannes an der Côte d’Azur ist die weltgrößte Fernsehmesse der Welt und zeigt, was schon bald in Millionen Wohnzimmern über die Bildschirme flimmert. Über 11.000 Verantwortliche von Sendern, Produktionsfirmen, Programmvertrieben, Internetplattformen und Medienkonzernen aus aller Welt kamen auch in diesem Oktober in Südfrankreich zusammen, um Inhalte zu kaufen oder zu verkaufen. Ein wichtiger Schwerpunkt diesmal: „Diversity“, also die Abbildung der gesellschaftlichen Vielfalt in den Medien.
Zu ihrem Vortrag im Palais de Festival in Cannes wurde Issa Rae mit brandendem Applaus begrüßt. Die Afro-Amerikanerin wurde soeben als „Medienpersönlichkeit des Jahres“ geehrt. Berühmt wurde sie vor allem in den Vereinigten Staaten mit ihrer Web-Serie „Awkward Black Girl“. „Ich habe damals gesehen, dass diese Serie keine Chance bei den klassischen Sendern gehabt hätte, weil die Protagonistin auch mit einigen Stereotypen bricht, die in den Medien weit verbreitet sind“, erklärte sie, „daher habe ich sie direkt fürs Internet produziert.“ Ihre Geschichte um eine junge Afro-Amerikanerin in den USA wurde im Netz zum Publikumsmagnet und erhielt den „Shorty Award“.
Für Rae war es ein großer Durchbruch: In der HBO-Serie „Insecure Girl“ erhielt sie die Hauptrolle, was ihr später zwei Golden Globe-Nominierungen einbrachte. Mit diesem Werdegang ist sie in der amerikanischen Film- und Fernsehindustrie eine Ausnahme. Denn von den 38 neuen Serien der US – Programmsaison 2016/17 waren rund 90 Prozent der kreativ Verantwortlichen Weiße. Und der Großteil von ihnen wiederum ist männlich. Ganz schlechte Chancen haben demnach Afro-Amerikanerinnen, wenn es darum geht, eine führende Funktion bei einer Fernsehproduktion zu ergattern. Dabei steht das Thema „Diversity“, also die Abbildung der gesellschaftlichen Vielfalt in den Medien, in den USA schon länger auf der Agenda.
Aber wie sieht es in Europa aus? Schwule oder lesbische Krimi-Ermittler beispielsweise hätten vor 20 Jahren einen mittleren Skandal ausgelöst, heute regt das niemanden mehr auf. Dennoch, kurz vor der Messe in Cannes hat die britische Medienaufsichtsbehörde Ofcom noch einmal die mangelnde Diversität bei englischen Sendern beklagt: Behinderte Menschen seien deutlich unterrepräsentiert, ebenso ethnische Minderheiten.
„Auch wenn sich schon viel getan hat – es gibt immer noch einen Mangel an Diversität“, stellte auch David Cornwall fest. Der englische Dokumentarfilmer mit afrikanischen Wurzeln hat vor drei Jahren während des globalen Medientreffs eine Art Forum gegründet. Daraus hervorgegangen ist eine Initiative, die in Cannes während der Messe unter anderem die „MIPCOM Diversify TV Exellence Awards“ vergibt. In diesem Jahr gewannen die Auszeichnung unter anderem Formate und Dokumentation wie „Against All Odds: The Fight for a Black Middle Class” aus den USA, „Blind Donna“ aus Finnland oder „First Day“ mit einem 12jährigen australischen Transgender Mädchen in der Hauptrolle. Deutsche waren gar nicht nominiert.
„Gerade Protagonisten, die nicht der Norm bzw. dem Durchschnitt entsprechen, sind eine Bereicherung für das Publikum“, urteilte dennoch der Kölner Produzent und Geschäftsführer von Unique Media Entertainment Wolfgang Link. Er ist jedenfalls sich sicher, dass entsprechende Formate verstärkt zu sehen sein werden.
Bereits im Vorjahr wurde in Südfrankreich „The a Word“ von einer internationalen Fachjury zum besten „Scripted Reality“ – Format gekürt. Die englische Produktion, die das Leben einer Familie mit einem autistischen Kind beschreibt, wurde inzwischen in 80 Länder verkauft. Oder die skandinavische Reality Show „The Fashion Hero“, die „ganz neue Normen in der Modeindustrie“ einführen und die „Verachteten zu den Beachteten“ machen möchte: mit Menschen, deren Attraktivität abseits der gängigen Klischees liegt. Zurzeit läuft sie in Kanada, Südamerika, der Türkei, in Südosteuropa und auf den Plattformen Amazon Prime und Trace. MIPCOM – Chefin Laurine Garaude zieht schließlich auch ein positives Fazit zum aktuellen Stand: „Wir sehen hier deutlich – Menschen die lange im Hintergrund standen, rücken immer mehr in den Mittelpunkt von Geschichten.“
Trotzdem mahnte Cornwall in Cannes: „Wenn das Publikum sich und seine Lebenswelt bei den TV-Sendern nicht wiederfindet, geht es ganz schnell zu anderen Anbietern im Internet, die diese Bedürfnisse erkannt haben und sie erfüllen.“ Das könnte die klassischen Sender teuer zu stehen kommen. Und für die Gesellschaft wird es unter Umständen richtig gefährlich. So sieht es zumindest der britische Rapper und Schauspieler („Star Wars Rogue One“) Riz Ahmed. Im Post-Brexit England würden sich die ethnischen Gruppen immer weniger in den Medien wiederfinden, warnt er: „Die schalten dann einfach ab. Und wenn sie schließlich im Netz ein Isis-Propagandavideo sehen, das den Terror der Islamisten als Kampf einer unterdrückten Minderheit gegen übermächtige Gegner verklärt, wird klar, warum sich Menschen aus der westlichen Welt von dieser Propaganda nach Syrien als Kämpfer locken lassen.“