Die Serie, vor zwanzig Jahren noch Synonym für TV-Produktionen wie „Eine schrecklich nette Familie“ oder „Lindenstraße“, ist mit neuen Erzähl- und Produktionsformen auf dem Weg, zu einem zentralen Kulturgut unserer Zeit zu werden. Dabei kommen Innovationen nicht nur aus den USA. Unter anderem der Erfolg von „Babylon Berlin“ zeigt, dass die europäische Serienindustrie den amerikanischen Produktionen durchaus etwas entgegenzusetzen hat.
NDR, 1969: Die Serie „Die Unverbesserlichen“ mit Inge Meysel steht auf dem Programm. Die Kameras stehen fest, sparsam ist der Umgang mit Zooms und Schwenks. Ein Wohnzimmer das zentrale Bühnenbild der 106-Minuten-Folge. Über eine Minute hält die Kamera auf eine Szene, in der Klein-Michael am Kaffeetisch Mutti und Oma fragt, was ein Embryo ist. Die Situation spitzt sich zu, als das Kind, durch eine Zeitschrift blätternd, danach wissen will, was eine „erogene Zone“ sein soll. Oma Käthe (Inge Meysel) ist außer sich. „Es ist doch ungeheuerlich, was in den Illustrierten heute alles drin steht!“
Auf sieben Folgen, zwischen 1965 und 1971 jedes Jahr eine, haben es „Die Unverbesserlichen“ gebracht. Familiensorgen und Erziehung. Abgefilmtes Theater. Dafür stand die Serie jener Zeit.
„Serie neuartigen Typs“
50 Jahre später: Neue Produktionen – vor allem aus den Vereinigten Staaten – haben die Serie weltweit verändert. Actionreiche Storylines, schnelle Schnitte, aufwändige Animationen und große Kulissen. Größere Bildschirme und hochauflösende Bilder haben technisch den Weg für inhaltliche Genüsse geebnet. Als Keimzelle für innovative Serien neuen Typus gelten vor allem US-Pay-TV-Sender, allen voran HBO, die schon in den frühen Nullerjahren in Serien mit neuen Spannungsmustern und großen Bildern investierten. Die Streamingdienste Netflix und Amazon Prime setzten diese Entwicklung fort und verankerten die „neue Serie“ auch im deutschsprachigen Markt. Eine wissenschaftliche Studie der Uni Münster untersuchte das Phänomen und kam zum Schluss: Formate wie „Game of Thrones“, „Breaking Bad“ oder „Homeland“ sind längst keine Nischenprodukte mehr. „Fast jeder zweite Deutsche mit Internetzugang kennt zumindest einige Vertreter dieses neuartigen Typs TV-Serie“, sagte der Marketingwissenschaftler Thorsten Hennig-Thurau und Forscher der Untersuchung „Phänomen Neue Drama-Serien“.
Für die Qualität spricht, dass die neuen Serien oft vollständig geschaut werden. 40 Prozent der Zuschauer*innen, so die Studie, haben sämtliche verfügbaren Staffeln und Folgen gesehen. Bei den herkömmlichen Serien, dazu zählten die Forscher u.a. Formate wie „Grey’s Anatomy“ und „Dr. House“, waren es nur 22 Prozent. Außerdem kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die neuen Serien unter den Teilnehmer*innen fast durchweg besser bewertet werden als die „klassischen“.
Viele Zuschauer*innen der neuen Serien hatten sich vom klassischen Fernsehen bereits abgewandt. Serienerfolge bringen sie zumindest wieder zurück auf die großen Bildschirme.
Eine Staffel an einem Abend
Von dort ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu jenem Phänomen, das wie kein zweites den Serienkonsum unserer Zeit prägt: Binge Watching – Staffelkonsum, locker sechs Folgen am Abend, am Stück. Auch die Wissenschaft bestätigt das Binge-Watching. „Jeder vierte Zuschauer guckt mindestens drei Folgen am Stück – und immerhin sieben Prozent gleich eine ganze Serienstaffel“, so Hennig-Thurau.
Der Marburger Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger findet eine Erklärung für das Phänomen in Goethes „Faust“: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!“ Der Dauerkonsum sei nichts anderes als der Versuch, „den schönen
Augenblick in die Länge zu ziehen“. Genuss beim Fernsehen, erläutert der Experte, entstehe durch das emotionale Fallenlassen. „Der Zuschauer taucht in eine Geschichte ein, indem er sich in die Figuren hineinversetzt. Dafür ist aber ein bestimmter zeitlicher und emotionaler Aufwand nötig. Dieser Aufwand wolle belohnt werden.
Bitte wiederkommen – gleiche Stelle, gleiche Welle. In einer Woche oder so. Der Cliffhanger, offener Ausgang einer Episode auf ihrem Höhepunkt der Folge, musste den Zuschauer*innen von einst die Wartezeit von meist einer Woche oder einem Tag verkaufen. Cliffhanger gibt es immer noch, doch müssen sie die Zuschauer*innen heute daran hindern zu Bett zu gehen.
Doch selbst, wer es ins Bett schafft, leidet dort häufig unter schlechtem Schlaf. Grund dafür, dass so viele Menschen nach einem Serien-Marathon Schlafprobleme haben, ist, dass die Storyline sie nicht mehr loslässt. Das ist gerade nach Binge-Watching-Abenden keine Seltenheit, was eine im Journal of Clinical Sleep Medicine publizierte Studie inzwischen bestätigt hat.
Der Beliebtheit des Marathon-Schauens tut das keinen Abbruch. Die Gelegenheiten nehmen zu. Auch die Mediatheken von ARD und ZDF laden immer häufiger dazu ein, gern auch „online first“, vor der Ausstrahlung im TV.
Mediatheken werden „netflixiger“
Und selbst in den Hauptprogrammen testen die Sender inzwischen das Binge Watching, mit Erfolg, wie das Beispiel „Babylon Berlin“ belegt. 7,83 Millionen Zuschauer*innen schalteten in der ARD am ersten Ausstrahlungstag zu, im ORF zeitgleich nochmals 472.000 Zuseher. Dennoch bleiben die Serien neuen Typs auch bei den Öffentlich-Rechtlichen vor allem online gefragt. Zwischen dem 30. September und dem 8. Oktober kam „Babylon Berlin“ in der ARD-Mediathek auf 3,39 Millionen Videoabrufe – mehr schaffte bislang noch kein anderes Angebot in einem Zeitraum von neun Tagen.
Serie wie Kinofilm
„Babylon Berlin“ war ein Experiment, mit Kosten von 40 Millionen Euro ein überaus teures sogar. „Diese Serie ist genauso gemacht worden, wie wir einen Kinofilm machen“, erklärt Stefan Arndt, Mitgründer und Geschäftsführer von X-Filme die erste Staffel in der Süddeutschen Zeitung. „Ein Produzent, ein Autor und ein Regisseur haben eine Idee, was sie erzählen wollen, und ziehen dann los, um das nötige Geld aus den unterschiedlichsten Quellen, privaten wie öffentlichen, zusammenzusammeln“, so Arndt.
Einmaligkeit. Keine Stangenware, sondern Unverwechselbarkeit. Exklusivität und Erstklassigkeit. Unterhaltsam sein – und Inhalte vermitteln. Das wollen die europäischen Player dem US-Serienmarkt mit ihren Serienangeboten nun entgegenhalten. Inhalte, die gesellschaftliche Debatten auslösen. Diesen Weg habe man bereits erfolgreich eingeschlagen, meint ZDF-Intendant Thomas Bellut. Die Bandbreite reiche von zeitgeschichtlichen Stoffen wie „Tannbach“ oder „Kudamm 59“ bis hin zu „Bad Banks“, das vor dem Hintergrund der Bankenkrise spielt.
„Ins ´Europäische Original´ investieren“
Hochwertige Serien, die aussehen wie Spielfilme. Das kommt an, bei Kritiker*innen wie Nutzer*innen gleichermaßen, doch hat seinen Preis. Für zehn Folgen Serie investiert Netflix 150 Millionen Dollar, bekannte Namen und Regisseur*innen inklusive. In Deutschland und Österreich kosten zehn Folgen immerhin noch 4,5 bis 8 Millionen Euro. Inzwischen stecke Netflix insgesamt 12-13 Milliarden Dollar in Inhalte. Das sei aber „US-generated Content“, sagt die ORF-Fernsehdirektorin Kathrin Zechner. Europäische Inhalte wie die deutsche Serie „Dark“ hätten dabei eher einen Marketingwert. Ein kleiner ORF könne jährlich nur wenige Millionen Euro in die heimische Film- und Serienwirtschaft investieren. Die EBU-Länder (European Broadcasting Union) können dagegen 18 Milliarden in regionale, hochwertige Eigenproduktionen leisten. Europa müsse in das „Europäische Original“ investieren. „Andernfalls geht der europäische Atem, der europäische Duktus, die europäische Selbstironie, das europäische Talent verloren“, erklärt die ORF-TV-Programmchefin.
„Heutige Produktionen sind ambitionierter und aufwändiger geworden, aber auch teurer“
Was kommt nach „Babylon Berlin“ und was setzt die europäische Serienindustrie den amerikanischen Produktionen entgegen? Marcus Ammon, Senior Vice President Film bei Sky Deutschland gibt Antwort.
M | Herr Ammon, was zeichnet eine erfolgreiche Serie heute aus?
Marcus Ammon | Vor allem muss sie sich unterscheiden, sie muss anders sein als die Serien, die es bereits gibt. „Wir auch“ darf da nicht die Devise sein. Diese Unterscheidbarkeit ist ganz entscheidend in unserer aktuellen Strategie. Wir wollen unverwechselbar sein, wir wollen exklusiv sein und wir wollen unseren Eigenproduktionen den einzigartigen „Sky-Stempel“ aufdrücken. Wir erzählen Geschichten, die so noch nicht erzählt wurden, die zwar im deutschsprachigen Raum Deutschland und Österreich verortet sind, aber „larger than life“ daherkommen. Das sind für uns die Merkmale, die eine erfolgreiche Sky-Eigenproduktion ausmachen. Wir stehen am Anfang dieser ganzen Bemühungen, haben mit „Babylon Berlin“ und zusammen mit unseren Partnern schon einen sehr respektablen Erfolg erzielt. Im November starteten wir „Das Boot“, unsere nächste Mega-Produktion, in Szene gesetzt von Andreas Prochaska. Die Hauptrollen in der Krimiserie „Der Pass“ spielen Nicholas Ofczarek und Julia Jentsch und Regie bei „8 Tage“ führt neben Michael Krummenacher Oscar-Gewinner Stefan Ruzowitzky. Auch das ist uns enorm wichtig: die Zusammenarbeit mit Personen, denen wir vertrauen und die optimal zum Projekt passen.
Stichwort „Das Boot“ – Alt hergebracht und neu draufgesetzt. Ist das auch ein längerfristiges Erfolgsrezept oder gerade nur ein Trend?
Das bleibt abzuwarten. Wir bauen natürlich auf die Bekanntheit der Marke „Das Boot“, haben uns aber ganz bewusst dafür entschieden, den Film nicht noch einmal zu erzählen, sondern eine komplett neue Geschichte zu entwickeln. Wir setzen zeitlich am Ende des Films an und starten mit einer neuen Crew in eine ganz neue U-Boot-Mission. Wir haben komplett anders als im Film zudem einen zweiten Erzählstrang entwickelt, der an Land in den Reihen der aufkeimenden Résistance spielt und von starken weiblichen Figuren getragen wird.
Nun haben Sie mit „Babylon Berlin“ ja schon gewisse Meilensteine gesetzt und außergewöhnlich positive Kritiken geerntet. Können Sie denn dieses Niveau auch beibehalten und Qualität nach diesem Muster in Mengen produzieren?
Die Erwartungen sind in der Tat sehr hoch. Aber Erfolg ist, wie jeder weiß, in unserer Branche nicht planbar – das ist das Spannende daran. Natürlich hängt vieles davon ab, wer die kreativen Geister hinter einem Projekt sind. Mit Visionären wie Tom Tykwer oder Andreas Prochaska bei den ersten Projekten zusammenzuarbeiten, ist ein gutes Startkapital. Eine erfolgreiche Eigenproduktion lebt vom Talent vor und hinter der Kamera, dem speziellen Thema, und zuallererst natürlich auch dem Autor, der es versteht, eine Geschichte horizontal, auf mehreren Ebenen und mit ambivalenten Figuren zu erzählen. Unser Ziel ist es, mit „Das Boot“ an den Erfolg von „Babylon Berlin“ anzuknüpfen. 2019 folgen, wie gesagt, mit „8 Tage“, „Der Pass“ und „Hausen“ weitere Sky Eigenproduktionen, von denen wir uns viel versprechen.
Und die Kooperation mit den Öffentlich-Rechtlichen à la „Babylon Berlin“, war das eine Ausnahme oder ist das ein Zukunftsmodell?
Ich hoffe, dass es ein Zukunftsmodell sein wird, weil die Zusammenarbeit in jeder Hinsicht sehr gut funktioniert hat. Ich werde die erste Sitzung nie vergessen, in der wir uns gegenseitig „beschnuppert“ haben und keiner wusste, wie der andere tickt und welche Erwartungen die jeweilige Partei hat. Aber in zahlreichen Gesprächen und Meetings mit allen Partnern sowie den Showrunnern haben wir festgestellt, dass wir eine gemeinsame Vision haben. Unsere kreativen Köpfe haben diese Vision geteilt und unterstützt. Gleichzeitig waren sie offen genug, Input seitens der Sender entgegen zu nehmen. Das Zusammenspiel hat funktioniert.
Alle schauen, auch Sky, bei der Eigenproduktion von Serien immer zuerst in die USA. Woanders in der Welt gibt es nichts?
Der große Erfolg von „Babylon Berlin“, sowohl bei Sky als auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern in Deutschland und Österreich, widerlegt diese These. Auch koproduzieren wir mit großer Freude gemeinsam mit unseren Schwesterunternehmen in Großbritannien und Italien. Zum Beispiel hat Sky Italien mit „Gomorrha – Die Serie“ einen riesigen internationalen Erfolg erzielt. Das gleiche gilt für „The Young Pope“.
Die Kollegen aus England sind ähnlich erfolgreich mit Serien wie „Britannia“ oder „Patrick Melrose“, mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle. Aber auch Canal+ in Frankreich macht hervorragende Eigenproduktionen. Da kommt wirklich guter Stoff aus Europa, der sich hinter den vieldiskutierten US-Serien nicht zu verstecken braucht.
Als so vor zehn Jahren die ersten innovativen Serien aus den USA ins deutsche Fernsehen kamen, die in den USA schon Standard waren, standen in Deutschland noch „Tatort“ und „Lindenstraße“ für heimische Serien. Hat man hierzulande zu lange altbacken produziert?
Das viel beschworene „Golden Age of Television“ fand tatsächlich in den USA mit Serien wie „Mad Man“, „Breaking Bad“ oder „Game of Thrones“ seinen Ursprung. In Deutschland hingegen gab es zum Beispiel mit Serien-Highlights von Helmut Dietl oder Dieter Wedel immer wieder Beweise für unsere erzählerische Kraft. Letztendlich haben doch alle produzierenden Sender unterschiedliche Geschäftsmodelle sowie Zuseher, deren Erwartungen es gerecht zu werden gilt. Dass sich ein kommerzieller Free-TV-Sender an der breiten Masse orientiert, liegt in der Natur der Sache. Natürlich ist aber auch bei deutschen und österreichischen öffentlich-rechtlichen Sendern der Blick auf den Mainstream sehr ausgeprägt. Vermutlich wird die Diskussion nie abreißen, wie Mainstream-orientiert ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk sein sollte oder wie ausführlich er auch sog. ‚Nischen-Interessen’ versorgen muss. Diese gesellschaftliche Diskussion ist wichtig und sorgt regelmäßig für eine Kalibrierung in der Programmierung. Und es passiert momentan viel: Das ZDF punktet mit „Bad Banks“ und „Ku’damm“, ganz aktuell auch mit „Das Parfum“, die ARD mit „Charité“ oder „Das Verschwinden“, der ORF traut sich schon seit Jahren an die Umsetzung mutiger Projekte. Es freut mich zu sehen, dass die lokalen Produktionen ambitionierter und aufwändiger geworden sind, auch teurer. Qualität kostet Geld, das darf man nicht vergessen.