Die bei dem Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ aufgedeckten Fälschungen von Artikeln durch den Star-Reporter Claas Relotius haben den ohnehin angeschlagenen Ruf der Medienbranche weiter untergraben. Doch statt auf individuelles Fehlverhalten zu fokussieren, sollten auch die derzeitigen Rahmenbedingungen von Berichterstattung ins Blickfeld genommen werden.
Der 19. Dezember 2018, ein Mittwoch, war kein guter Tag für den deutschen Journalismus. Nicht, dass es dem Berufsstand ansonsten wirklich gut geht. Schwindende Auflagen der gedruckten Presse und das Abwandern der Anzeigen auf Internetportalen haben die Branche in den vergangenen Jahren schwer unter Druck gesetzt, was auch die Journalist*innen und Redakteur*innen spüren: Arbeitsplätze in den Redaktionen wurden abgebaut, Verleger stiegen aus den Tarifverträgen aus und zahlten weniger Lohn, manche Zeitungen wie die „Financial Times Deutschland“ verschwanden ganz von der Bildfläche, andere kämpfen um das Überleben. Hinzu kommt eine gesellschaftliche Debatte von rechts unter dem unsäglichen Begriff der „Lügenpresse“, aber auch aus der gesellschaftlichen Mitte heraus steht die Berichterstattung etwa der Öffentlich-Rechtlichen Sender in Sachen Syrien oder dem Konflikt in der Ukraine in der Kritik.
Und dann kam dieser Mittwoch und das ehemalige „Sturmgeschütz der Demokratie“, das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, musste eingestehen, dass einer ihrer Star-Reporter viele seiner preisgekrönten Reportagen ganz oder in Teilen gefälscht hatte. Und niemand in der Redaktion war ob der sich wunderbar um das Thema schmiegenden Erzählungen misstrauisch geworden, auch der vielfach gerühmte Faktencheck durch die 60-köpfige Dokumentationsabteilung des Verlagshauses hatte nichts zu beanstanden.
Damit war nach der Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher in der Illustrierten „Stern“ (1983), den erfundenen Prominenten-Interviews im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ (2000) und den erfundenen TV-Beiträgen bei „Stern-TV“ (1996) auch das „Flaggschiff des investigativen Journalismus“ – so jedenfalls die jahrzehntelange Selbsteinschätzung – von journalistischen Fälschungen betroffen, ein „Tiefpunkt“ der 70-jährigen Geschichte des Magazins, so die Redaktion in einer Reaktion.
Claas Relotius, ein mit 33 Jahren junger Journalist, hatte in seinen Reportagen Gesprächspartner und Gespräche erfunden, hatte aus Gegenden berichtet, in denen er nie war und hatte Dinge beschrieben, die es nie gegeben hatte, so der „Spiegel. Für die so entstandenen Texte war Relotius mit sechs Journalistenpreisen ausgezeichnet worden.
Vielleicht geht ein Weg, sich diesem Fall zu nähern, über den von Relotius größtenteils erfundenen Artikel über „Jaegers Grenze“, eine Bürgerwehr in Arizona. Aufgeflogen ist die ganze Sache, weil ein Kollege, der Co-Autor der „Jaeger“-Geschichte, anhand von Fotos misstrauisch geworden war. Denn die Bürgerwehr-Story war mit Bildern des Fotografen Jonny Milano illustriert. Diese Fotografien erschienen aber bereits in 2016 in der „New York Times“ und der bärtige Mann, der sich in der Spiegel-Story „Jaeger“ nennt, wird dort mit seinem vollen Namen genannt: Chris Maloof. Und als Co-Autor Juan Moreno diesen Mann ausfindig macht und befragt, sagt dieser, einen Spiegelreporter namens Claas Relotius habe er nie gesehen.
Sieht man sich die Fotografien von Jonny Milano an, so zeigen diese uniformierte und bewaffnete Männer zwischen Gestrüpp und Gestein. Die Fotos wirken sehr perfekt, von Bild- und Lichtgestaltung her – fotografische Aufnahmen von bester Qualität, kaum zu toppen.
Auch bisher war schon klar, dass über digitale Bearbeitung Bilder auf vielfältige Weise verbessert und verändert werden können. Doch aktuelle Bildbearbeitungsprogramme verändern das Ausmaß dessen, was möglich ist. Aus flauen Fotos werden Bilder mit strahlenden Farben, der matte Himmel wird blau mit Wolkenzeichnung oder er stammt gar von einem anderen Foto, Sonnenstrahlen können beliebig platziert und Dinge und Menschen spurlos gelöscht werden. Aus einem mittelmäßigen Foto wird so eine neue, strahlende Wirklichkeit und wer das weiß, wundert sich nicht mehr über die geradezu übernatürliche Schönheit und Klarheit von Landschaften und Menschen in den Werbe-Prospekten.
Wir wissen, so manches Foto der Zeitgeschichte ist gestellt, der Fotograf hat ein bisschen nachgeholfen. Ergänzt wird dies nun durch die wunderbaren technischen Möglichkeiten der Algorithmen. Und der Journalismus? Der soll noch immer noch das alte Lied von Wahrheit und Wahrhaftigkeit singen? Das Digitale setzt ebenso wie Verlagsstrategien auf Optimierung und auf Effizienzsteigerung, huldigt einem Bewertungs- und Bemessungswahn. Fotos werden nicht nur optimaler, sondern sind auch immer schneller verfügbar. Demgegenüber ist der Journalismus der Wahrhaftigkeit ein Fossil: Hingehen, reden, nachfragen, anschauen, nachdenken, aufschreiben, schreiben. Und manchmal sperrt sich die wirkliche Welt dagegen. Die Anforderungen, die Relotius aber glaubte erfüllen zu müssen, sind die der digitalen (neoliberalen) Welt und eines sich immer rasenderer gebärdenden Live-Journalismus: Die der permanenten Selbstoptimierung hin zum perfekten Produkt und die völlige Ausschöpfung der Wirklichkeit. Die Reportagen von Relotius entsprechen mit ihrer Perfektion einer erfundenen oder simulierten Welt folgerichtig den Ansprüchen einer Gesellschaft, deren Mitglieder ständig dazu angehalten werden, über den nach außen gezeigten Schein die eigenen Vermarktungschancen auf den „Märkten“ zu steigern. „Es ist totaler Zeitgeist“, sagte Co-Autor Moreno (in der „Süddeutschen Zeitung“) über den Anspruch der Chefredaktion an die Reportage.
Und diese Chefredaktion spiegelt auch die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre auf dem journalistischen Feld wieder. Seit sich die Parteien angeglichen haben (etwa in der Zustimmung zu Hartz IV), haben sich auch die politischen Konzepte angeglichen – die aktuelle „Groko“ (Große Koalition) ist dafür ein beredtes Beispiel. Wo aber keine unterschiedlichen politischen Konzepte existieren, können sich diese auch nicht in den Medien widerspiegeln. Dem politischen Einheitsbrei entspricht der einheitliche Medienbrei. Dass mittlerweile die Journalisten zwischen „Bild“ und „Spiegel“ beruflich hin- und herpendeln (1) – früher kaum denkbar -, ist dazu nur eine ergänzende, wenn auch beredte Facette.
(1) 2013 wechselte Nikolaus Blome von der „Bild“ als stellvertretender Chefredakteur zum „Spiegel“, 2015 ging er zurück zum Springer-Verlag;, 2018 wechselte Timo Lokoschat, Redaktionsleiter von „Spiegel Daily“ als leitender Redakteur zu „Bild“.)