„Die gute Nachricht: Es wurden keine Hinweise darauf gefunden, dass jemand im Haus von den Fälschungen wusste, sie deckte oder gar an ihnen beteiligt war. Die schlechte Nachricht: Wir haben uns von Relotius einwickeln lassen und in einem Ausmaß Fehler gemacht, das gemessen an den Maßstäben dieses Hauses unwürdig ist.“ So fasst der Spiegel zusammen, was eine dreiköpfige Aufklärungskommission erkundete und jetzt öffentlich gemacht wurde.
Mit dem vor fünf Monaten aufgedeckten Betrugsfall Claas Relotius habe der Spiegel dem Qualitätsjournalismus in Deutschland „einen gewaltigen Imageschaden zugefügt“, erklären Geschäftsführer Thomas Hass und Chefredakteur Steffen Klusmann. Weiter teilten sie den Leser*innen am 24. Mai mit: „Wir sind, als erste Zweifel aufkamen, viel zu langsam in die Gänge gekommen und haben Relotius’ immer neuen Lügen zu lange geglaubt. In seiner Verdichtung zeichnet der Bericht da ein verheerendes Bild.“
Der 17-seitige Abschlussbericht wurden den Spiegel-Lesern in der aktuellen Printausgabe und auf Spiegel online zur Kenntnis gebracht und war schon zuvor als PDF veröffentlicht worden. Brigitte Fehrle als externe Expertin und die Spiegel-Blattmacher Clemens Höges und Nachrichtenchef Stefan Weigel waren beauftragt zu ergründen, „wie es Relotius gelingen konnte, sämtliche Sicherungen außer Kraft zu setzen“ und wie die Redaktion nach Bekanntwerden „dem Betrugsverdacht nachgegangen“ ist.
Personelle Konsequenzen hatte es bereits im Vorfeld gegeben: Ullrich Fichtner und Matthias Geyer, zwei Förderer und Vorgesetzte von Relotius, hätten ihnen eigentlich zugedachte Leitungsfunktionen nicht angetreten und seien mit neuen Aufgaben in der gemeinsamen Redaktion betraut worden. Der zuständige Dokumentar habe „auf eigenen Wunsch“ das Haus verlassen.
In der zusammenfassenden Einschätzung der Spiegel-Chefs ist von einem „heilsamen Schock“ die Rede und wird angekündigt, Lehren etwa in Form besser funktionierender Sicherheitsmechanismen zu ziehen und ein neues journalistisches Regelwerk für die Marke zu erarbeiten.
Im hinteren Teil des Berichts werden exemplarisch einige Beispiele genannt, in denen zwar nicht betrogen, aber unsauber gearbeitet worden sei. Das betreffe etwa eine „sehr großzügige Auslegung von Abläufen oder Fakten“, indem ihnen eine „künstliche Dramaturgie eingepflanzt“ wurde. Derartiges solle künftig nicht mehr toleriert werden.
Über genau so einen Fall hatte M Online im November 2017 als erstes berichtet. Es ging um die auch im Spiegel-Untersuchungsbricht benannte Berichterstattung des Nachrichtenmagazins über den Hamburg-Besuch der ehemaligen italienischen Senatorin Haidi Giuliani, Mutter des 2001 zum Staatschef-Gipfel in Genua von der Polizei mit einem Kopfschuss getöteten Carlo Giuliani. Sie hatte an Aktionen im Vorfeld des G20-Gipfels teilgenommen. Mit Dokumenten und Augenzeugenaussagen belegt wies M-Autor Oliver Neß damals nach, dass die Spiegel-Schilderung des Giuliani-Aufenthalts in mehreren Punkten den Tatsachen widersprach. Um Stellungnahme gebeten, hatte die Chefredaktion schließlich abgewiegelt, von Missverständnissen gesprochen und sich mit „redaktionellen Kürzungen beim Zusammenschreiben“ gerechtfertigt. Angesichts des inzwischen offenbarten Umfangs kritikwürdiger Arbeitsweise in der Spiegel-Redaktion bekräftigte M-Chefredakteurin Karin Wenk die Notwendigkeit „sichtbarer und nachhaltiger Veränderung“. In jedem Fall seien „die Empfehlungen der Untersuchungskommission lehrreich für alle“.
Das Netzwerk Recherche verleiht den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2019“ an Juan Moreno. Wie am 27. Mai mitgeteilt wurde, würdigt die Journalistenvereinigung so die Aufdeckung der Relotius-Manipulationen durch den freien Spiegel-Reporter: „Juan Moreno hat seinen journalistischen Kompass und seine Unabhängigkeit beispielhaft bewiesen. Er hat hartnäckig und mutig gegen Widerstände im eigenen Haus recherchiert und dabei viel riskiert – um schließlich zu enthüllen, was lange niemand wahrhaben wollte“, so Julia Stein, Vorsitzende von Netzwerk Recherche.