Für „eine Art drittes System“ neben dem existierenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den Privatsendern hat sich der Medienforscher und Leiter des Kölner Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM) Lutz Hachmeister ausgesprochen. „Zukunft Medienpolitik“ hieß die Konferenz, bei der Wissenschaftler, Rundfunkleute und Politiker auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung über Perspektiven einer demokratischen Öffentlichkeit diskutierten.
Für Hachmeister ist die Medienpolitik in Deutschland und Europa den Anforderungen des digitalen Zeitalters nicht gewachsen. Gemessen an der Dominanz der US-Internetriesen wirke die föderale Medienregulierung speziell hierzulande mit einer Vielzahl von Landesmedienanstalten „provinziell und antiquiert“. Dies gelte auch für das „erstarrte, überalterte und wenig konkurrenzfähige Rundfunksystem“ mit seinen „nicht mehr zeitgemäßen hierarchischen Strukturen“. Angesichts einer „fehlenden Zusammenschau von Medien-, Netz- und Digitalpolitik“ hätten US-Konzerne wie Google, Facebook und YouTube leichtes Spiel, den deutschen Markt zu dominieren. Ein einzelner Player wie Netflix sei im Begriff, den einst weltweit größten Medienkonzern Bertelsmann umsatzmäßig zu überholen.
Strategiepapier in Arbeit, Stresstest gefordert
Eine IfM-Arbeitsgruppe mit externen Fachleuten, so kündigte Hachmeister an, werde in Kürze ein detailliertes Strategiepapier zur Reform des Mediensystems präsentieren. Zwar sei man für einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Aber zur Überwindung existierender Defizite plädiert man für ein „drittes System zur strategischen und intellektuellen Entlastung“ der bisherigen Sender. Als denkbare Basis schlägt er einen unabhängigen, in Stiftungsform organisierten Fonds aus Teilen des Rundfunkbeitrags und Werbeabgaben der Privatsender vor. Bei realistischer Kalkulation könne dadurch ein Finanzierungssockel von rund 400 Millionen Euro entstehen. Sinn dieses Fonds sei es, jenseits der starren Aufsichtskontrolle der existierenden Sender „außergewöhnliche Leistungen von Autoren, Produzenten und Kreativen zu fördern“. Es habe Jahre gedauert, bis ein „High-Level“-Stoff wie „Babylon Berlin“ habe entstehen können, und das nur in Kooperation mit dem Privatsender Sky. Hachmeister sprach sich für einen „wissenschaftlich fundierten Stresstest“ für das bisherige öffentlich-rechtliche System aus. Dabei sollten Mitarbeiter der Sender befragt werden, „wie sie damit fertig werden, was sie gern machen, was sie auch gern nicht mehr machen möchten“.
Bei der absehbaren, anstehenden Besteuerung globaler Online-Konzerne müsse darauf geachtet werden, dass Einnahmen „über die bisherigen partiellen Mildtätigkeiten“ von Google & Co. hinaus direkt dem publizistischen, demokratierelevanten Sektor zugutekommen. Ein europäisches gemeinnütziges Portal, das unter anderem vom früheren ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm ins Gespräch gebracht worden war, sei weiterhin sinnvoll. Als erster Schritt müsse jedoch endlich eine auf nationaler Ebene funktionierende Mediathek etabliert werden.
Den US-Giganten mit EPOS Paroli bieten
Warum braucht es überhaupt aus europäischer Sicht eine eigenständige digitale Plattform, die den US-Internetgiganten Paroli bietet? Welche Rahmenbedingungen muss die Medienpolitik dafür schaffen? Und wie könnte ein entsprechendes Betreibermodell aussehen, das zukunftstauglichen Journalismus ermöglicht? Um diese Fragen ging es im anschließenden Panel „Kommunikationsraum Europa! Medien im Zeitalter globalisierter Plattformökonomie“. Barbara Thomaß, Medienwissenschaftlerin an der Ruhr-Uni Bochum und Mitglied des ZDF-Verwaltungsrates, zeichnete die Genese des Vorschlags eines digitalen, gemeinwohlorientierten öffentlichen Raums nach. Sie selbst war vor gut einem Jahr Erstunterzeichnerin der „Zehn Thesen zur Zukunft öffentlich-rechtlicher Medien“, in denen ein stärkerer Beitrag öffentlich-rechtlicher Anbieter zur europäischen Meinungsbildung gefordert wurde. Daraus entsprang die gemeinsam mit Wissenschaftlern aus der Schweiz und Österreich entwickelte Idee zu dem Projekt „European Public Open Spaces“ (EPOS). Ähnlich wie beim Vorschlag des Ex-ARD-Vorsitzenden gehe es um eine oder mehrere Plattformen, die öffentlich-rechtliche Medien, Kultureinrichtungen, Wikipedia sowie die Bürger selbst organisieren sollten. Anders als Wilhelm schließt EPOS allerdings die Beteiligung kommerzieller Einrichtungen und Sender aus.
Fehlt noch der geeignete Werkzeugkoffer?
Gegen eine zu „kleinteilige“ Debatte über mögliche Plattformen wandte sich Stefan Heumann von der Stiftung „Neue Verantwortung“. Auch die meisten gemeinnützigen Akteure verfügten bereits über eine Plattform, „die nennen wir das Internet“. Das Netz sei doch dezentral, jeder könne seine Inhalte posten und verbreiten. Es sei fraglich, ob eine staatlich geförderte Plattform das geeignete Mittel sei, die freie Debatte im Netz zu stärken. Gerade angesichts der von Hachmeister kritisierten eher provinziellen Strukturen hierzulande bezweifle er, dass die hiesigen Akteure „den richtigen Werkzeugkoffer“ gegen die schnellen und innovativen US-Konzerne besäßen. Es müsse zunächst darum gehen, die vorhandenen gemeinnützigen Inhalte “breiter verfügbar und für die Gesellschaft nutzbar zu machen“. Das betreffe auch Lizenzen und die Suche nach Wegen, gerade junge Menschen mit Qualitätsinhalten zu erreichen. Ein erster Schritt dazu könnten Kooperationen, zum Beispiel mit Wikipedia, sein. Eine europäische Plattform bringe wenig, wenn die Nutzer „weiterhin alle bei Facebook und Tik Tok unterwegs“ seien. Heumann plädierte dafür, das Internet im Rahmen des Bestehenden zu demokratisieren und nutzerorientiert weiterzuentwickeln, anstatt sich in ausufernden „theoretischen Debatten“ über europäische Plattformen zu verlieren.
Für Medienwissenschaftler Josef Trappel von der Uni Salzburg geht es grundsätzlich um die Frage: „Wie lassen sich die Werte, die der öffentliche Rundfunk in den letzten 40 Jahren der Gesellschaft zur Verfügung gestellt hat, in eine digitale Umgebung überführen?“ Es müsse sichergestellt werden, dass das öffentliche Interesse auch im Internet gewahrt bleibe. Eine zentralisierte europäische öffentliche Institution wäre mit dieser Aufgabe auch nach seiner Ansicht überfordert. Akteure einer Trägerorganisation müssten vor allem die Kräfte sein, die schon bisher an der Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit beteiligt sind. Trappel: „Das muss vielfältig und dezentral sein und nicht das Werk einer einzelnen Organisation.“