Kolumbien wird von einem Spionageskandal erschüttert. Anfang Mai enthüllte die Zeitschrift „Semana“, dass die Armee des Landes auch Journalist*innen hinterherspioniert und vertrauliche Daten über sie gesammelt hat. Dass kritische Medienschaffende überwacht werden, überrascht in der Branche kaum jemanden ernsthaft.
Der junge Fotojournalist Nicolas Bedoya erschrak, als er neulich die Nachrichten durchscrollte. „Ich dachte nur: ach, du Scheiße“, schildert er den Moment, als er sein Bild auf der Webseite von „Semana“ (deutsch: Die Woche) entdeckte. Das bekannte Magazin hatte unter dem Titel „Las Carpetas Secretas“ (Die Geheimordner) berichtet, dass Geheimdiensteinheiten der Armee des Landes an der Nordspitze Südamerikas monatelang Informationen zu mehr als 130 Personen des öffentlichen Lebens gesammelt hatten. Von Februar bis Dezember 2019 legten die IT-Experten in Uniform Profile von kolumbianischen und internationalen Medienschaffenden, Nichtregierungsorganisationen, Oppositionspolitikern und Gewerkschaftern bis hin zum ehemaligen Stabschef von Präsident Iván Duque an. Zusammengetragen wurden persönliche Daten über Familienangehörige, Freunde und Kollegen, ebenso wie Telefonnummern und Adressen, Kontakte zu Politikern und journalistischen Quellen. Daraus erstellten sie Bewegungsprofile und Organigramme, die „Semana“ nun veröffentlichte. Durchgeführt wurde die Aktion mit Informationstechnik und Geldern aus der US-Militärhilfe, berichteten die in Bogota erscheinende Wochenzeitschrift und das „Wall Street Journal“.
Die Cybereinheit nahm dabei mehr als 30 Journalist*innen ins Visier, die im Rahmen ihrer journalistischen Arbeit Kontakt zu Guerillaorganisationen aufgenommen oder kritisch über die Armee berichtet hatten. Dazu zählten Nachwuchsjournalisten ebenso wie renommierte Fotografen und Reporter. Neben US-Journalisten, die für die „New York Times“, die „Washington Post“, das „Time-Magazine“, „National Geographic“ und das Radionetzwerk NPR aus Kolumbien informiert hatten, findet sich auch der kolumbianische Fotograf Federico Rios. Er hat unter anderem für „Stern“ und „Der Spiegel“ fotografiert.
Praxis widerspricht kolumbianischer Verfassung
Besonderes Augenmerk legten die Armeespione auf den ehemaligen Leiter des Andenbüros der „New York Times“, Nicholas Casey. Er hatte im Mai 2019 Jahr berichtet, dass die Armeeführung Anweisungen an ihre Einheiten erteilt hatte, mehr Erfolge bei der Bekämpfung illegaler bewaffneter Gruppen zu erzielen und die Anzahl getöteter Kriminelle und Rebellen zu erhöhen. Eine ähnliche Direktive hatte nach der Jahrtausendwende zu tausenden Tötungen von Zivilisten durch das Militär – sogenannte falsos positivos – geführt. Casey musste deshalb nach Drohungen das Land verlassen. Auch Nicolas Bedoya hatte keine andere Wahl und ging für über ein Jahr in die USA. Der 28-jährige US-Kolumbianer hat in einem Langzeitprojekt ehemalige FARC-Guerilla bei ihrer Demobilisierung begleitet und unterstützte Casey für eine Reportage über abtrünnige FARC-Dissidenten. Ortsansässige Journalisten wie Bedoya, die als Fixer in den gefährlichen Konfliktregionen Kolumbiens über gute Kontakte zu lokalen Akteuren und den Bürgerkriegsparteien verfügen, sind für die internationalen Kollegen oft unverzichtbar. „Die Enthüllungen bringen nicht nur mich in Gefahr, sondern auch viele meiner Informanten“, sagt Bedoya nun.
Das Entsetzen über den staatlichen Angriff auf die Pressefreiheit ist groß. Die Journalistengewerkschaft FECOLPER, die Vereinigung für die Pressefreiheit FLIP und die Internationalen Pressevereinigung in Kolumbien APIC, die einige der Betroffenen vertreten, verurteilten das Vorgehen ebenso wie die Internationale Journalisten-Föderation IJF, das Komitee zum Schutz von Journalisten CPJ und Reporter ohne Grenzen RSF. Sie fordern Aufklärung. “Wer gab den Befehl? An wen gingen die gesammelten Informationen? Wer hatte Zugang zu ihnen? Wussten der Präsident und sein Verteidigungsminister davon?“, fragten die betroffenen Medienschaffenden und mehr als hundert solidarische Kollegen in einem offenen Brief an Präsident Ivan Duque und Verteidigungsminister Carlos Trujillo. Zufriedenstellende Antworten haben sie bislang nicht erhalten, auch wenn Trujillo mittlerweile elf hochrangige Militärs, darunter zwei Generäle, die die Geheimdiensteinheiten geführt hatten, entließ. Die Regierung nahm zudem Abstand davon, General Nicacio Martínez, der im fraglichen Zeitraum Oberkommandierender des Heeres war, zum Abgesandten Kolumbiens bei der Nato zu berufen.
„Das Abgreifen, Speichern und Clustern von Daten ist ein Angriff auf die Sicherheit und die Privatsphäre von Journalistinnen, Journalisten und ihren Quellen und widerspricht der kolumbianischen Verfassung“, sagt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr: „Die Behörden müssen jetzt alles tun, um den entstandenen Schaden zu begrenzen und die betroffenen Medienschaffenden und Redaktionen zu schützen.“ Die Ermittlungen laufen.
Transparenz für Betroffene gefordert
Die FLIP vermutet, dass das Ausmaß der Bespitzelung noch viel größer ist und hat die Regierung aufgefordert, den Betroffenen Zugang zu den Geheimdienstdokumenten zu gewähren. Überrascht sind kolumbianische Medienschaffende aber nicht, dass Journalisten Ziel von geheimdienstlicher Überwachung gewesen sind. Zu oft wurden in den vergangenen Jahrzehnten ähnliche Fälle aufgedeckt; immer wieder auch dank hartnäckiger Recherchen von Journalisten.
Gegenüber M bestätigten zahlreiche im aktuellen Fall Betroffene, dass sie bereits vermutet hatten, überwacht zu werden. “Anrufe brachen plötzlich ab und manchmal schien aus unerklärlichen Gründen mein Handy zu spinnen”, erzählt Nicolas Bedoya. Eine erfahrene Reporterin sagte M vertraulich, sie nehme an, dass die Behörden ihr bereits seit zehn Jahren folgten. Das Nachrichtenmagazin „Semana“ selbst hatte berichtet, Redakteure seien im Rahmen der aktuellen Recherchen vom Militärgeheimdienst beschattet, verfolgt und bedroht worden.
Für Pedro Vaca, Direktor der FLIP, kommen die neuesten Enthüllungen daher nicht völlig unerwartet. Sie zeigten, dass das Kapitel der staatlichen Überwachung von Journalisten nicht der Vergangenheit angehöre. “Es handelt sich um eine anhaltende und gängige Praxis, die uns in die Nähe nicht-demokratischer Regime rückt”, sagte Vaca. “Und wir haben kaum eine Garantie dafür, dass solche Dinge sich in Zukunft nicht wiederholen.”