Zahlreiche Fernsehinnovationen fanden ein Publikum
Sat.1 war einen Tag schneller als RTL, doch das ist längst Schnee von gestern. Eine ganze Generation ist mittlerweile mit einer täglichen Serie wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ groß geworden, mit den Abgründen menschlichen Daseins in Talk- und Gerichts-Shows, mit dem Elends-Tourismus in Formaten, die angeblich der Lebensberatung dienen, mit beinahe allgegenwärtigem Klatsch und Tratsch sowie mit der Gewissheit, dass das Fernsehen aus unscheinbaren Zeitgenossen quasi über Nacht „Superstars“ machen kann.
Marktführer zumindest in der vermeintlich werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen ist seit einer gefühlten Ewigkeit der Kölner Sender RTL, der seinen früh erworbenen Vorsprung vor der kommerziellen Konkurrenz nie wieder eingebüßt hat. RTL ist es außerdem als erstem Privatsender gelungen, ein mehr oder weniger seriöses Image zu bekommen. Wurde das Senderlogo – es steht für Radio Tele Luxemburg – in den Anfangsjahren noch spöttisch als Kurzform für „Rammeln, Töten, Lallen“ bezeichnet, sind RTL heute praktisch alle Fernseh-Innovationen in Deutschland zu verdanken. Auch wenn Medienkritiker, Lehrer und Arte-Zuschauer auf die meisten dieser Formate gut und gern verzichten können: Sie haben ihr Publikum gefunden. Mit Reinhold Beckmann, Johannes B. Kerner und Jörg Pilawa sind zudem einige der derzeit populärsten öffentlich-rechtlichen Moderatoren von Privatsendern abgeworben worden.
Genre-Importe in ARD und ZDF
Ohnehin haben ARD und ZDF nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihren Charakter in den letzten anderthalb Jahrzehnten stärker gewandelt als in den gut vierzig Jahren zuvor. „Konvergenz“ ist das Stichwort, die programmliche Angleichung zwischen öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Sendern: Aus lauter Angst, den Anschluss zu verpassen und damit ihr Publikum zu verlieren, wird mittlerweile jeder Trend mitgemacht. Tägliche Talkshows („Fliege“), „Daily Soaps“ („Verbotene Liebe“), Quiz-Shows („Das Quiz mit Jörg Pilawa“), Telenovelas („Wege zum Glück“), Talentsuchen, Lifestyle-Beratung („Bruce“ mit Bruce Darnell): alles ursprünglich Genre-Importe von Privatsendern, alle von ARD und ZDF mit oft genug allenfalls durchwachsenem Erfolg abgekupfert.
Natürlich kann und sollte man über viele Formate des Privatfernsehens streiten, und das keineswegs bloß, weil „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ (RTL) auf diverse Fragen des guten Geschmacks ziemlich eklige Antworten gefunden hat. Dieter Bohlens fragwürdiger Umgang mit talentlosen Sangeskünstlern bei „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL) beschäftigt regelmäßig den Jugendschutz. Auf der anderen Seite hat das deutsche Fernsehen den Privatsendern einige herausragende Produktionen zu verdanken: Diverse Serien und Filme sind zu Recht mit seriösen Preisen geehrt worden.
Trotzdem sind es nicht immer die Top-Titel, die im Gespräch als erste fallen. Volker Szezinski zum Beispiel, bis vor kurzem langjähriger Leiter der Sat.1-Programmplanung, nennt nicht etwa die Quotenknüller „Der Tunnel“ oder „Der Tanz mit dem Teufel“, sondern die romantische Komödie „Wie angelt man sich seinen Chef?“: Nach der Erstausstrahlung ist der Liebesfilm mit Sophie Schütt und Johannes Brandrup sechs mal wiederholt worden. Vier mal lagen die Marktanteile bei 20 Prozent. „Brot und Butter“ nennt der frühere stellvertretende Sat.1-Geschäftsführer solche Filme: „Die sind mir nicht weniger wichtig als ‚Das Wunder von Lengede’, weil sie unser Kerngeschäft ausmachen.“
Misserfolge sofort ins Archiv
Anfang der Neunzigerjahre haben die Privatsender begonnen, eigene Fernsehfilme zu produzieren. Das Etikett „Der große Sat.1-Film“ gehört bis heute zu den bekanntesten Programmmarken. Sat.1 hat bislang über 400 „TV-Movies“ produzieren lassen. Derzeit sind es pro Jahr nur noch rund zwanzig. Bei RTL waren es bis 2000 fast vier Dutzend. Dann wurde das Geld knapper, der Sendeplatz „Der große TV-Roman“ lief aus. Heute liegt der Schwerpunkt bei wenigen Produktionen. Der düstere Zweiteiler „Das jüngste Gericht“ zum Beispiel war wegen seiner am Comic-Roman orientierten Bildgestaltung optisch der wohl innovativste Fernsehfilm des letzten Jahres.
Während die ARD gerade ihre Freitagsmelodramen durch sämtliche dritten Programme wandern lässt, muss eine Produktion bei der kommerziellen Konkurrenz auf Anhieb funktionieren. Misserfolge wandern ins Archiv; mit einer Wiederholung, erklärt Szezinski, „dupliziert man nur den Misserfolg.“ Erste Sat.1-Eigenproduktion war im November 1992 „Mit dem Herzen einer Mutter“: mit über 7 Millionen Zuschauern „ein gigantischer Erfolg“ (Szezinski); und eindeutig frauenaffin, lange bevor das Prädikat erst zum Schlag- und dann zum Unwort wurde. Ansonsten aber hat Sat.1 gerade mit seinen „Event“-Filmen viel fürs Image getan. Gleich sechs Mal gab es den begehrten Adolf Grimme Preis, unter anderem für Peter Keglevics Entführungsdrama „Der Tanz mit dem Teufel“ sowie Jo Baiers Sedlmayr-Biografie „Wambo“ (beide 2001) und das zeitgeschichtliche Rettungsdrama „Das Wunder von Lengede“ (mit knapp 9,4 Millionen Zuschauern erfolgreichstes „Event“-Movie des Senders, Regie: Kaspar Heidelbach). Publikumsstärkstes „TV-Movie“ der RTL-Geschichte ist mit über 11 Millionen Zuschauern der Katastrophenfilm „Die Sturmflut“ (Regie: Jorgo Papavassiliou). Die Reihe „Der große TV-Roman“ hingegen war auch berüchtigt für nicht immer geschmackssichere Titel („Die Bademeister – Busen, Beton Bieralarm“; „Gesteinigt – Der Tod der Luxuslady“). Einen Grimme-Preis für ein TV-Movie hat RTL nie bekommen. Diese Ehre widerfuhr dafür ausgerechnet RTL 2: Der Sender hat für Nico Hofmanns großartigen Thriller „Der Sandmann“ (1995, mit Götz George) den ersten wie wohl auch letzten nennenswerten Preis für eine fiktionale Produktion erhalten.
Da ist die Filmografie von ProSieben vor allem dank diverser Polit-Thriller („Das Phantom“, „Das Staatsgeheimnis“, „Operation Rubikon“) ungleich beeindruckender. Kennzeichnender für die Eigenproduktionen des Senders aber waren Katastrophenfilme wie „Tsunami“, „Tornado“ oder „Das Inferno“, die zu den erfolgreichsten deutschen Filmexporten zählen. Mit den Remakes von Klassikern wie „Die Schatzinsel“, „Fleisch“, „Die Brücke“ und „Der Seewolf“ hat ProSieben zuletzt allerdings durchwachsene bis niederschmetternde Erfahrungen gemacht.
Steigende Senderzahl
Seit der Wende nahm die Zahl der Privatsender beträchtlich zu. Noch 1989 ging ProSieben auf Sendung, 1991 folgte der Pay-TV-Sender Premiere. 1992 starteten der Kabelkanal (seit 1994 Kabel 1) und der Nachrichtensender n-tv. Dann setzte der Boom der Spartensender ein. Vor allem Jugend-, Musik- und Sportkanäle wie MTV, Viva; DSF und Eurosport bevölkern seitdem die Mattscheibe. Zur RTL-Familie stießen Vox, RTL2 und Super RTL; die ProSiebenSat.1-Gruppe verstärkte sich mit N24. Mit dem Männersender Dmax (Nachfolger des Doku-Kanals XXP) startete Anfang 2009 die dritte Generation der Free-TV-Sender. Dazu gehören auch der Spielfilmkanal Tele 5 sowie der Kindersender Nick. Aufgrund staatsvertraglicher Auflagen kommen bei den großen Senderketten auch „unabhängige Dritte“ wie „Spiegel-TV“ und „Stern-TV“ zum Zuge. Dazu einige von interessierten Laien gestaltete „Offene Kanäle“. Während das Ballungsraum-TV selbst in Berlin nicht reüssierte (gerade erst ging das „Fernsehen aus Berlin“ FAB in Konkurs), erreichte in vielen Bundesländern Lokal- und Regional-TV eine gewisse Blüte. Der Schwerpunkt des Nahfernsehens liegt in den neuen Ländern. So tummeln sich derzeit in Sachsen 59 regionale Programme; in Berlin-Brandenburg sind es immerhin noch 33.
Heute erlaubt die Digitalisierung, jedem Satellitenhaushalt theoretisch den Empfang von rund 350 privaten Kanälen. Ob Bibel-TV, Timm TV (der Sender für Homosexuelle), der Kochsender Gusto oder Tier TV – nahezu jede Geschmacksrichtung wird bedient.