Ausfallfonds für Kinofilme und für TV-Produktionen schnellstens einrichten
Im Sommer brummt der Film- und Fernsehmotor auf Hochtouren: Die meisten Produktionen entstehen zwischen Mai und August. In diesem Jahr jedoch ist alles anders. Vielerorts wird zwar wieder gedreht, aber der Motor stottert nach wie vor. Produzenten und Berufsverbände hadern allerdings weniger mit Corona, sondern vor allem mit der Politik: In seltener Einmütigkeit fordert die Branche einen Ausfallfonds nicht nur für Kinofilme, sondern auch für TV-Produktionen.
Krisen sind immer auch eine Zeit der Bewährung. Als im März der „Lockdown“ ausgerufen wurde, mussten Hunderte von Film- und Serienproduktionen von heute auf morgen eingestellt werden. Die notorisch zerstrittene Branche, in der zumeist jeder Fachverband sein eigenes Süppchen kocht, hat jedoch große Solidarität bewiesen und ist – natürlich nur bildlich – eng zusammengerückt. Christoph Palmer, Vorsitzender der Geschäftsführung der Allianz Deutscher Film- und Fernsehproduzenten, hebt vor allem den Anteil der Berufsverbände und Gewerkschaften hervor: „Es gab bis zu Beginn der Krise keine tarifvertragliche Regelung für die Kurzarbeit, weil diese Maßnahme in unserer Branche mit ihren Produktionszeiträumen von wenigen Wochen nicht vordringlich war. Im März haben wir mit ver.di und dem Berufsverband Schauspiel innerhalb von wenigen Tagen einen Kurzarbeitstarifvertrag mit entsprechenden Aufstockungen ausgehandelt.“ Die Beschäftigten haben dabei deutliche Einschnitte akzeptiert.
Dank dieser Regelung konnten die jeweiligen Crews bis zur Wiederaufnahme der unterbrochenen Dreharbeiten gehalten werden; laut Palmer ein erster wichtiger Baustein im Rahmen der Bewältigungsmaßnahmen. Der zweite war ein spezieller Hygienekatalog für Dreharbeiten unter Pandemie-Bedingungen, den die Produzentenallianz gemeinsam mit der für die Filmwirtschaft zuständigen Berufsgenossenschaft erarbeitet hat. Bea Schmidt, für Bavaria Fiction Produzentin der täglichen ARD-Serie „Sturm der Liebe“, beschreibt das umfangreiche Konzept, das weit mehr als bloß den Umgang mit Kussszenen regelt: „Zu den Maßnahmen zählen unter anderem das tägliche Messen der Hauttemperatur, regelmäßige Corona-Testungen der Schauspieler und Komparsen, eine generelle Maskenpflicht, zusätzliche Wasch- und Desinfektionsmöglichkeiten, Bodenmarkierungen sowie Personalisierung von Arbeitsgeräten. Die Dreharbeiten werden zudem von einem Medical Consultant beaufsichtigt, der darauf achtet, dass der Infektionsschutz eingehalten wird. Vor dem Dreh von Szenen mit großer körperlicher Nähe müssen sich die Schauspieler in eine Schutzzeit mit Kontaktbeschränkung begeben. Die Anwesenheit produktionsfremder Personen auf dem Studiogelände ist auf ein Minimum reduziert worden.“
Mittlerweile wird wieder in großem Umfang gedreht. Trotzdem sei man noch weit vom Normalzustand entfernt, betont Palmer: „Die Zeiten bleiben äußerst anspruchsvoll.“ Außerdem führten die diversen Auflagen „natürlich zu einem ganz erheblichen zeitlichen und finanziellem Mehraufwand, der alle Beteiligten – die Beschäftigten wie auch die Produzenten – vor große Herausforderungen stellt.“ Über jedem Projekt schwebe zudem das Damokles-Schwert eines möglichen Abbruchs, weil jederzeit ein regionaler Lockdown ausgerufen werden könne: „Die Branche hat die erste Corona-Phase im Frühjahr noch irgendwie überstanden. Würde sich so etwas im gesamten Bundesgebiet wiederholen, hätten viele Firmen aufgrund ihrer Eigenkapitalschwäche nichts mehr zuzusetzen.“
Durch die Pandemie sind seit Mitte März über 300 Kino- und TV-Produktionen unter- oder abgebrochen worden, der entstandene Schaden beträgt laut Palmer bis zu 100 Millionen Euro. Er wäre noch größer, wenn sich die Sender nicht bereit erklärt hätten, sich an den Mehrkosten zu beteiligen. Während die Privatsender diese Ausgaben bei bestimmten Produktionen sogar ganz übernehmen, zahlen ARD und ZDF pauschal 50 Prozent. Das höre sich zwar toll an, sagt Palmer, „aber auf den restlichen 50 Prozent bleiben die Produzenten sitzen, und das stellt für kleinere und mittlere Firmen eine echte Herausforderung dar.“ Der Schaden werde zudem erst ersetzt, wenn ein Dreh abgeschlossen sei: „Es handelt sich keineswegs um eine Bezuschussung im Voraus nach der Devise ‚Wenn euer potenzieller Schaden bei 300.000 Euro liegt, überweisen wir euch pauschal 150.000 Euro.’“ Die exakte Summe sei ohnehin erst bezifferbar, wenn die Produktion im Kasten ist.
Laut Christine Strobl, Geschäftsführerin der ARD-Tochter Degeto, der mit Abstand größten deutschen Auftraggeberin für Fernsehfilme, liegt die entsprechende Summe pro Film im mittleren fünfstelligen Bereich. „Darüber hinaus tragen wir als Sender die Hälfte des Risikos eines Coronabedingten Abbruchs beziehungsweise die Kosten, die durch eine Verschiebung entstanden sind.“ Bislang hätten über fünfzig Degeto-Produktionen gestoppt oder verschoben werden müssen. „Wir sprechen bereits heute von zusätzlichen Kosten in Millionenhöhe.“ Beim ZDF legte Corona allein in den Monaten April und Mai ein Drittel der Jahresproduktion still. Die Mainzer gehen derzeit von Mehrkosten von wenigstens fünfzig Millionen Euro aus. Bei RTL, im fiktionalen Bereich weit weniger engagiert als ARD und ZDF, war die Produktion von Serien wie „Alarm für Cobra 11“, „Der Lehrer“ oder „St. Maik“ betroffen. Alle Sender versichern, sie hätten kein fiktionales Projekt abgesagt. Nach Angaben eines ZDF-Sprechers gebe es jedoch Produktionen, „die wir wegen ihrer Komplexität und ihres hohen Finanzrisikos geschoben haben“, etwa den Drehstart für die Frank-Schätzing-Verfilmung „Der Schwarm“. Gleiches gilt für geplante RTL-Großproduktionen wie „Der König von Palma“ oder einen Film über das Leben von Boris Becker, die mit ihren großen Massenszenen derzeit kaum realisierbar seien.
Dass Sender und Produktionsfirmen dieses Risiko scheuen, hat einen speziellen Grund. Die Filmbranche, erläutert Palmer, „ist ein Projektgeschäft. Die Grundkosten sind in der Regel überschaubar, aber in der Produktionsphase sind hohe Investitionen nötig. Die Absicherung von Risiken ist bei uns daher ein weit größeres Thema als in anderen Branchen mit vergleichsweise linearen Geschäftsmodellen.“ Weil eine Film- und TV-Produktion gegen alles Mögliche, aber nicht gegen die Folgen einer Pandemie versichert werden kann, haben sich 39 Verbände und Organisationen der Film- und Fernsehbranche in seltener Einmütigkeit einer Initiative der Deutschen Akademie für Fernsehen, des Verbands Deutscher Drehbuchautoren und des Bundesverbands Regie angeschlossen: Sie appellieren an die Bundesländer wie auch an die TV-Sender und Streamingdienst-Anbieter, einen Ausfallfonds für pandemiebedingte Schäden bei TV-Produktionen einzurichten.
Anderswo gibt es solche Töpfe bereits: Britische Kino- und TV-Produktionen zum Beispiel können mit einer staatlichen Unterstützung von insgesamt 500 Millionen Pfund (circa 550 Millionen Euro) rechnen. Zwar hat auch die Bundesregierung die Einrichtung eines entsprechenden Fonds beschlossen, aber weil der Bund nur für den Kinofilm zuständig ist, gilt dieser Topf nicht für Fernsehfilme oder gewöhnliche Serien. Einzige Ausnahme sind sogenannte High-End-Serien, die durch den German Motion Picture Fund (GMPF) gefördert werden können. Für seinen Ausfallfonds hat der Bund 50 Millionen Euro vorgesehen. Das ist zwar löblich, aber nur die halbe Miete. Das deutsche Kinoproduktionsvolumen liegt laut Palmer bei circa 600 Millionen Euro, das gesamte hiesige Produktionsaufkommen betrage jedoch rund 2,5 Milliarden Euro: „Die Musik spielt also zumindest quantitativ vor allem im Bereich der Fernsehauftragsproduktionen der vier großen Sendergruppen und der Streamingdienste.“ Da Fernsehen in Deutschland Ländersache ist, arbeite die Produzentenallianz derzeit „mit Hochdruck daran, dass sich die Länder auf einen gemeinsamen Topf verständigen. Wir wandern sozusagen mit dem Klingelbeutel von Staatskanzlei zu Staatskanzlei.“ Angestrebt sei ein Ausfallfonds in Höhe von wenigstens 50 Millionen Euro. Produktionshochburgen wie NRW und Berlin (jeweils 10 Millionen) haben ihre Unterstützung bereits zugesichert.
Palmer will auch Sender und Plattformen ansprechen, „denn sie haben als Auftraggeber allergrößtes Interesse an einem funktionierenden Markt, der qualitätsvolle und aktuelle Produktionen hervorbringt.“ Einige Sender haben ihre Unterstützung bereits signalisiert: „Wir brauchen jetzt wirklich dringend eine Lösung unter Einbeziehung der Förderer, der Länder und des Bundes. Die Sender leisten hier bereits Wesentliches“, sagt Christine Strobl. Öffentlichkeitswirksam haben sich auch UFA-Geschäftsführer Nico Hofmann, Chef des größten deutschen Produktionsunternehmens, sowie Henning Tewes (RTL) in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) für einen bis zum Sommer 2021 befristeten Ausfallfonds ausgesprochen. Sie plädieren für ein Modell, das ähnlich wie eine Teilkaskoversicherung für Autos funktioniert: Produzenten melden ihren Schaden dem Fonds. Dort wird dann die Schadenssumme ermittelt, die zu 80 Prozent übernommen wird; den Rest teilen sich Sender und Produktionsfirma. Für Palmer ist dieser Fonds die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wieder ein halbwegs normaler Filmbetrieb stattfinden kann: „Es ist höchste Eile geboten.“