Am Victorian Supreme Court in Melbourne stehen 18 Journalisten und zwölf Medienunternehmen vor Gericht. Ihnen wird vorgeworfen, eine gerichtlich verhängte Nachrichtensperre in Bezug auf den australischen Kardinal George Pell im Dezember 2018 missachtet zu haben. Der Prozess begann Anfang November, wurde jedoch nach eineinhalb Wochen unterbrochen und wird am 28. Januar fortgesetzt. Den Antrag der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens lehnte Richter John Dixon ab. Den Angeklagten drohen hohe Geldbußen oder bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug.
Der frühere Kurienkardinal der Katholischen Kirche George Pell war vor zwei Jahren wegen Kindesmissbrauchs zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden, die er zum Teil absaß. Im April 2020 kam Pell nach einem Revisionsverfahren und dem Rechtsgrundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ wieder frei. Da auf Pell 2018 aber noch eine weitere Anklage wartete und Strafen aus einem vorausgegangen Verfahren nach australischem Recht einen Folgeprozess nicht beeinträchtigen dürfen, verhängte das Gericht eine Schweigeverfügung.
Offenbar hat in der australischen Medienbranche niemand damit gerechnet, dass es in dieser Sache tatsächlich zu einem Prozess kommen würde. Viele Anklagepunkte sind unhaltbar, zeigte der bisherige Verlauf. Nachdem sie die Klageschrift verlesen hatte, musste Staatsanwältin Lisa de Ferrari ein halbes Dutzend Beschuldigte von ihrer Liste streichen, unter anderem den Namen des traditionsreichen Zeitungsverlags „Fairfax“. Der existiert gar nicht mehr – Fairfax wurde 2018 vom Fernseh-Netzwerk „Nine Entertainment“ aufgekauft. Richter John Dixon tadelte die Staatsanwaltschaft für ihre schlechte Vorbereitung, sie habe Beweismittel ungenügend dokumentiert.
Auch etliche Anklagepunkte weggefallen
„Das Verfahren erschien mir von Anfang an fadenscheinig“, sagt Trevor Jackson, der mit Argwohn beobachtet, was mit ehemaligen Kollegen in diesem Prozess geschieht. Jackson arbeitete viele Jahre für private Radiosender, war später Redakteur und Radiomoderator für die öffentlich-rechtliche ABC und meint: „Es hat mich wenig überrascht, dass die Staatsanwältin schon während der ersten Prozesswoche 13 Anklagen zurücknehmen musste.“ Nach der Entscheidung von Richter John Dixon vom 4. Dezember haben von ursprünglich hundert Anklagepunkten noch 79 Bestand.
Kerri Judd, Leitende Staatsanwältin des Bundesstaats Victoria, soll im Vorlauf des Verfahrens Medienunternehmen zur Herausgabe von Dokumenten aufgefordert haben, um einzelne Journalist*innen belasten zu können. Der Medienanwalt Matt Collins sah darin den unrechtmäßigen Versuch, Arbeitsabläufe in Redaktionen und vorgenommene Änderungen an einzelnen Artikeln offenzulegen. Collins betonte, dass es sich bei den Angeklagten um Angestellte handele, die Artikel nicht eigenmächtig veröffentlichen würden und schon deshalb nicht bestraft werden dürften. Sein Anwaltskollege Will Houghton betonte, sämtliche Print- und Online-Medien in Australien hätten darauf verzichtet, George Pell namentlich zu nennen und Einzelheiten des Urteils zu veröffentlichen. Insofern hätten sie die gerichtliche Schweigeverfügung befolgt und in Artikeln nicht mehr als ihren Unmut über eine Verfügung geäußert, die sie als Zensurmaßnahme empfinden.
Die Medien im Visier
Einerseits mag man sich nicht vorstellen, was es für Australiens Außendarstellung bedeuten würde, wenn am Prozessende mehr als ein Dutzend Medienschaffende ins Gefängnis geschickt würden. Andererseits genießt die laut Beobachtern sehr aggressiv auftretende Staatanwaltschaft offenbar die uneingeschränkte Unterstützung der Regierung. Journalisten stünden „nicht über dem Gesetz“, sagte Premierminister Scott Morrison. Das klingt zunächst banal, muss aber wohl als Bestärkung einer schonungslosen Härte verstanden werden. Innenminister Peter Dutton positionierte sich noch eindeutiger, indem er sagte, er habe „kein Problem“ mit dem Massenprozess in Melbourne. Morrison und Dutton hatten 2018 ein umstrittenes Gesetz zur „Nationalen Sicherheit“ auf den Weg gebracht, das nach Ansicht von Kritikern nicht nur Terroristen, sondern auch die Medien ins Visier nimmt.
2019 war das bislang dunkelste Jahr für Transparenz und freien Informationsfluss in Down Under. Kurz nach der Parlamentswahl erschien die australische Bundespolizei mit vorgehaltenen Gewehren beim Sender ABC, um im Zuge einer acht Stunden dauernden Razzia Recherchematerial zu Kriegsgräueln von Soldaten des Landes in Afghanistan zu konfiszieren oder zu löschen. „Es ist offensichtlich, was mit Journalisten in diesem Land gerade passiert“, meint Trevor Jackson. „Die Macht von Politik und Justiz hat in den letzten Jahren immens zugenommen.“ Mit dem Anti-Spionage-Gesetz von 2018 drohen investigativen Reportern lebenslange Haftstrafen. Sie machen sich strafbar, wenn sie Geheimdokumente veröffentlichen oder besitzen.
Australiens Nachrichtensperre im Pell-Prozess könnte aber auch für ausländische Medien Folgen haben – das hat Staatsanwältin Lisa de Ferrari in ihrem Vortrag angedroht. Und die Sperre hat anderenorts offenbar bereits gewirkt: Die „Süddeutsche Zeitung“ verzichtete Ende 2018 digital und online auf alle Veröffentlichungen zur Verurteilung von Kardinal Pell. Die „Washington Post“ schreibt dagegen in einem Artikel zum laufenden Prozess in Melbourne: „Kein internationales Medienunternehmen ist wegen Missachtung der verfügten Nachrichtensperre angeklagt worden. Das First Amendment der US-Verfassung würde ein solche Zensurmaßnahme in den Vereinigten Staaten ohnehin verhindern.“ Alle Versuche, US-Journalisten wegen Verstößen gegen eine Schweigeverfügung in Australien gerichtlich, etwa mit einem Auslieferungsgesuch, zu belangen, wären „vergeblich“.
Schlicht antiquiertes Werkzeug
Zudem stellt sich die Frage, ob Schweigeverfügungen den Nachrichtenfluss überhaupt vollständig eindämmen können. Daran gibt es berechtigte Zweifel. Im digitalen Zeitalter seien sie „schlicht antiquiert“, heißt es in einer Stellungnahme von Australiens Mediengewerkschaft „Media Entertainment & Arts Alliance“ (MEAA). Vielmehr seien grundlegende Reformen innerhalb der Justiz notwendig – indem beispielsweise Geschworene durch Berufsrichter ersetzt werden. Die Gewerkschaft hält Schweigeverfügungen für „stumpfe Werkzeuge aus dem 19. Jahrhundert“. Die Tatsache, dass sich Details vom ersten Urteil gegen Pell nicht über Zeoitungen, in Windeseile aber über Facebook- und Twitter-Accounts verbreiteten, belegt diese These. Dennoch versuchte die Justiz im Pell-Verfahren, Geschworene vor medialen Einflüssen komplett abzuschirmen.
Einen Massenprozess wie in Melbourne gegen Zeitungsredakteure, Rundfunkjournalisten und Medienmanager kannte man bisher nur aus autokratisch geführten Ländern wie der Türkei oder Ägypten. Er ist widersprüchlich wie Australien selbst, das sich gerne als als „Lucky Country“, als Traumziel für Abenteurer mit schier unbegrenzten Möglichkeiten präsentiert. Zu den vorgeblichen Freiheiten rechnet die Regierung von Scott Morrison gerne auch die Pressefreiheit. Dabei ist diese – anders als in vielen anderen westlich geprägten Ländern – in der australischen Verfassung mit keinem Wort verankert.