Gesetzlicher Mindestlohn auch für Zeitungszusteller
Bei den Zeitungszustellern ist die Empörung groß. „Ich bin entsetzt“, sagt Gabi Grimm. Die Betriebsratsvorsitzende der Braunschweiger Zustellfirma AVA bezeichnet es als Frechheit, dass die Verlage und diverse Unionspolitiker ausgerechnet bei den mehr als 300.000 Zeitungsboten eine Ausnahme vom geplanten Mindestlohn fordern. „Das ist diskriminierend und bei einem so harten Job ohne jede Rechtfertigung“, sagt Grimm.
Ihr Kollege Andree Hemmes sieht das genauso. „Schäbig“ nennt er den Versuch der Konzerne, eine Anhebung der in der Branche üblichen Niedriglöhne zu verhindern. Das Renommee der Zusteller sei ohnehin miserabel. „Wenn wir nun auch beim Mindestlohn ausgegrenzt werden, wird es noch schlimmer“, glaubt der 50-jährige. Ihm zufolge würden die meisten seiner Kollegen, die jeden Morgen die Braunschweiger Zeitung in die Briefkästen stecken, von dem geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde profitieren. „Vielleicht kommen ein paar Leute in Hochhausgebieten, wo die Wege kurz und die Briefkästen leicht zu erreichen sind, bisher über diesen Betrag. Aber die allermeisten liegen deutlich darunter.“
Nicht Hobby, sondern Alltag.
Hemmes ist sich allerdings sicher: „Wenn der Mindestlohn eingeführt wird, fängt die Auseinandersetzung in den Betrieben erst richtig an.“ Zum Beispiel über die Frage, wie die Vergütung – die pro „gesteckter“ Zeitung gezahlt wird – in einen Stundenlohn umgerechnet wird. Ausgangspunkt müsse die Grundvergütung sein, betont er. Den Nachtzuschlag und andere Zulagen sieht er als Ausgleich für besonders belastende Arbeitsbedingungen, sie dürften daher nicht eingerechnet werden. Um sich in dieser Frage durchzusetzen, brauche es eine aktive Interessenvertretung und einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad.
In Berlin, wo die Zeitungszustellung über ein System von Subunternehmen der Vertriebsgesellschaft BZV organisiert ist, sieht es in dieser Hinsicht schlecht aus. Betriebsräte, die die Einhaltung eines Mindestlohn-Gesetzes kontrollieren könnten, gibt es fast nirgendwo. Stattdessen herrsche Gutdünken und Willkür, berichtet der Zusteller Sven Müller, der in Wirklichkeit anders heißt. Wenn jemand aufmucken würde, könne er leicht mit der Zuteilung einer anderen, weniger lukrativen Zustelltour bestraft werden.
Auch in der Hauptstadt ist die Bezahlung mies. „Ein Hochleistungssportler kann es vielleicht schaffen, auf 8,50 Euro in der Stunde zu kommen, aber nur bei einer guten Tour“, meint Müller. „Im Normalfall liegt man unter vier Euro – und das bei echt heftigen Arbeitsbedingungen.“ Dazu zählten nicht nur die vielen Werbebeilagen, die die übliche Papiermenge verdoppeln oder gar verdreifachen können und das „Stecken“ erschweren, ohne dass es dafür mehr Geld gibt. Auch die Sicherheit ist in den belebten Innenstadtbezirken ein ständiges Problem. Pöbeleien seien Alltag, sagt der 35-jährige. „Da werden Zeitungen vom Stapel geklaut, die einem dann für die Zustellung fehlen. Es wird schon mal in den vollen Wagen gespuckt oder sogar reingepinkelt. Irgendwelche betrunkenen Witzbolde schieben die Fuhre auch mal eben um die Ecke oder legen sich hinein, um sich rumkutschieren zu lassen.“ Manchmal passiere noch Schlimmeres. Erst in der vergangenen Woche sei ein Kollege ausgeraubt worden: Geld und Handy weg.
Esslingen ist von Berlin nicht nur geographisch weit entfernt. Auch die Zusteller beider Regionen trennen Welten. „Wir werden hier relativ gut bezahlt, weil wir einen starken Betriebsrat haben“, sagt Cornelia Kling, die in der Beschäftigtenvertretung der örtlichen Vertriebsgesellschaft ÜZV engagiert ist. Die Einführung eines Mindestlohns findet sie trotzdem richtig: „Es kann nicht sein, dass Menschen für weniger als 8,50 Euro in der Stunde arbeiten. Diese Kolleginnen und Kollegen brauchen dringend eine gesetzliche Regelung, die selbstverständlich für alle gelten muss.“
Schluss mit Dumping.
Allerdings fürchtet die Schwäbin, dass die Unternehmen den Mindestlohn zum Anlass nehmen könnten, höhere Entgelte auf dieses Niveau abzusenken. Bei der ÜZV gebe es bereits jetzt die Tendenz, frei werdende Touren mit Minijobbern zu besetzen und so reguläre Beschäftigung zu verdrängen. Bislang liegen die Löhne bei dem Tochterunternehmen der Esslinger Zeitung zum Teil deutlich über 8,50 Euro. In Karlsruhe und Pforzheim sei es genauso, berichtet Kling. „Das zeigt doch, dass die Behauptung aus der Luft gegriffen ist, Firmen und Verlage würden bei Einführung des Mindestlohns reihenweise pleite-gehen.“
ver.di-Bundesfachgruppenleiter Andreas Fröhlich rechnet vor: „Die Zustellung macht mit einem Anteil von 11,4 Prozent den geringsten Teil der Kosten der Zeitungsproduktion aus.“ Die Beseitigung menschenunwürdiger Löhne sei für die Unternehmen daher durchaus verkraftbar. „Nur Zustellfirmen, deren Geschäftsmodell auf Niedriglöhnen basiert, wären gefährdet – und das ist auch gut so“, meint der Gewerkschafter. Der Dumpingwettbewerb, der durch die Aufstockung von Arbeitslosengeld II von den Sozialkassen subventioniert werde, müsse ein Ende haben. „Deshalb sagen wir klar: Mindestlohn für alle – ohne Ausnahmen.“