Da kaum noch jemand vom eigenen Erleben des Nationalsozialismus erzählen kann, stellt sich die Frage, wie diese Zeit jungen Menschen möglichst authentisch nahegebracht werden kann. Immer häufiger werden Computerspiele zu Zwecken der politischen Bildung gegen Faschismus entwickelt. Über deren Potenziale und Handlungsbedarfe referierten am 28. Juni Fachleute bei einer Online-Veranstaltung im Rahmen der Jüdischen Woche Leipzig.
Wie virulent das zugrundeliegende Problem für die politische Bildungsarbeit ist, zeigt die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“, die vergangene Woche vom NS-Dokumentationszentrum München übernommen wurde. Nathalie Jacobsen vom Dokuzentrum wies darauf hin, dass viele Jugendliche sich zum ersten Mal in der Schule mit dem Nationalsozialismus befassen. Das erhöht die Bedeutung der Medien für die politische Bildungsarbeit, denn, wie Jacobsen zu bedenken gab: „Narrative in den Medien sind prägend für das erste Bild im Kopf“. Sie erinnerte an die Fernsehserie „Holocaust“ von 1979, die eine große gesellschaftliche Diskussion auslöst habe, wie es sie „vorher nicht gegeben hatte“.
Heute muss es aber mehr sein, als nur der eine oder andere Film. Jacobsen verwies auf grafische Romane, darunter sogar das nicht explizit zu einem pädagogischen Zweck entstandene Buch „Irmina“ von Barbara Yelin. Yelin arbeite derzeit wieder an einem Comic, der zur Zeit des NS spielt. Auf der Basis ihrer Zeichnungen solle auch ein 40- bis 60-minütiges Computerspiel entstehen. Bei diesem Projekt soll vor dem Hintergrund teilanimierter Comiczeichnungen ein „Point-and-Click-Adventure“ entstehen, sagte Jacobsen. Die Spielenden sollen also immer wieder Entscheidungen treffen, die die Spielfigur ausführt. Dabei soll es kein „Game Over“ geben. Wenn die Figur zu Tode kommen würde, soll es stattdessen zurück zur letzten Entscheidungsmöglichkeit gehen. Außerdem soll die Figur historische Dokumente wie Lebensmittelmarken sammeln. Jacobsen hielt fest: „Bei der Verbindung von Erinnerungskultur und Games tut sich unheimlich viel.“
Der Berliner Computerspieleautor Jörg Friedrich sieht bei den bisherigen Verarbeitungen des Zweiten Weltkriegs allerdings „eine aufklärerische Lücke“. Die historischen Erkenntnisse seien bei Computerspielen „doch sehr beschränkt“. Friedrich hat deshalb das Spiel „Through the Darkest of Times“ (Durch die dunkelste der Zeiten) entwickelt, das 2020 den Deutschen Computerspielpreis als „Bestes Serious-Spiel“ erhielt. Darin geht es um die Sichtbarmachung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.
Nun gibt es also immer mehr Computerspiele, die sich antifaschistischer Pädagogik widmen, und die Jugend zeigt sich dafür auch aufgeschlossen – allerdings fehlt noch die Ebene der Vermittelnden. Robert Sigel von der Geschäftsstelle des bayerischen Beauftragten für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus wies darauf hin, dass Lehrkräfte genau erklärt bekommen müssten, wie sie ein Spiel einsetzen können – also etwa bei Extra-Bildungstagen, oder einfach im Unterricht – und was davon erwartet werden kann. „Sie sollten so wenig Mühe wie nötig bei der Vorbereitung haben.“ Manche Lehrkräfte würden zudem einen Kontrollverlust befürchten, wenn sie die Jugendlichen an Computerspielen sitzen lassen.
Ein Filmemacher aus dem Publikum, der eine Klasse bei einem NS-Projekt begleitet hatte, warf die Frage auf, inwieweit Hologramme, also dreidimensionale Animationen von Menschen, Zeitzeug*innen ersetzen können. Darauf antwortete Nathalie Jacobsen, dass das nicht möglich sei. Wenn im Rahmen eines Spiels Fragen an ein Hologramm einer Zeitzeugin gestellt würden, könne der Computer nur die am besten passende der vorab aufgenommenen Aussagen der Zeitzeugin einspielen, und das sei kein Gespräch.
Eine andere Person aus dem Publikum erzählte, dass sie früher in Computerspielen auch mal „Juden abgeknallt“ habe, heute aber „zur linken Szene“ gehöre. Es sei „gut, auch mal der Nazi zu sein“. Die damit einhergehende Selbstbeobachtung, etwa wenn es ums Erschießen gehe, könne heilsam sein und bewirken, dass jemand „nicht in der Realität auf den Nazi-Zug aufspringt“. Das stieß unter den Fachleuten aber auf Ablehnung. Mick Prinz, Leiter des Projekts „Good Gaming“ der Amadeu-Antonio-Stiftung hält es für „extrem problematisch“, im Spiel die Täterperspektive einzunehmen: „Das kann schiefgehen.“ Er empfahl demgegenüber die von seinem Projekt angebotenen Fortbildungen für diverse Bildungseinrichtungen. Nathalie Jacobsen stimmte ihm zu. Sie gestand zwar zu, dass es wichtig sei, sich klarzumachen, wie schnell man zum Mittäter werden kann. Aber „dem wird nicht Einhalt geboten durch das Versetzen in eine historische Situation“.
Einig waren sich die Fachleute darin, dass wichtige Schritte gemacht worden seien, um Computerspiele als Mittel der politischen Bildungsarbeit zu etablieren, dass aber auch noch viel mehr getan werden müsse, gerade von den Firmen, die die größten und beliebtesten Spiele entwickeln. Aus dem Publikum kam der Hinweis, dass der Branchenverband noch nicht mit Schulen zusammenarbeite.
Moderator Michael Geidel, der mit seiner Leipziger Firma „Actrio Studio“ neben Filmen nun auch pädagogische Computerspiele produziert, erwähnte am Ende der Veranstaltung, dass die staatliche Computerspiele-Finanzierung derzeit neu aufgestellt werde und dass sich da für Spiele ohne Massenmarkt eine Möglichkeit ähnlich der Theaterförderung auftue.