Konflikte und Aggressionen nehmen im Internet immer mehr Raum ein und „entzünden sich im Austausch von Standpunkten und Meinungen“, beschreibt der Journalistinnenbund (JB) die Veränderung der Diskurskultur seit der Verbreitung sozialer Medien. Die 34. Jahrestagung des JB lud vom 17. bis 19. September 2021 dazu ein, sich dem Thema „Aufklären statt Anheizen – konfliktsensitiv berichten“ zu widmen und an dem vielseitigen Programm in Essen oder per Livestream teilzunehmen.
Genau eine Woche vor der Bundestagswahl veranstaltete der JB ein Event zu Konfliktsensitivität im deutschen Journalismus und appelliert nachhaltig an die Medien, „sich in Zeiten von Hatespeech und hitzigen Social-Media-Auseinandersetzungen ihrer Verantwortung bewusst zu werden“. „Statt um Quoten und Klicks zu kämpfen, sollen Journalist*innen präzise recherchieren und angemessen beschreiben, was ist“, leitet Friederike Sittler, Vorsitzende des Journalistinnenbundes, die Tagung im Regionalverband Ruhr ein. Oftmals würden sich journalistische Beiträge, gerade im Hinblick auf die aktuelle Wahlberichterstattung, eher nach „Likes“ und „Shares“ richten. Das hätte nichts mehr mit „Journalistischer Qualität“ zu tun, so Sittler. Schließlich ginge es nicht darum, die Gesellschaft aufzustacheln, sondern aufzuklären, um sie handlungsfähig zu machen. Konflikte zu lösen statt Eskalationen zu fördern, seien überlebenswichtig für die Demokratie, verdeutlichte die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Journalistik der TU Dortmund und JB-Mitglied, Sigrun Rottmann.
Friedensjournalismus statt Gewaltjournalismus
Um die Frage nach den Anfängen der konfliktsensitiven Berichterstattung bzw. des Friedensjournalismus zu klären, verwies Rottmann auf den norwegischen Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung und den österreichischen Sozialpsychologen Wilhelm Kempf. Beide fokussierten sich in den 1980er Jahren auf Kriegsberichte in den US-amerikanischen sowie europäischen Medien und analysierten diese. Dabei stellte Galtung fest, dass sich Mainstream-Medien zu sehr von Propaganda beeinflussen ließen und sich eher auf die Meinungen der Elite konzentrierten. Er verglich die Berichterstattung mit Kampfhandlungen und führte folglich den Begriff „Gewaltjournalismus“ ein. Konfliktlösungen seien auf dieser Kommunikationsebene unmöglich, da sie Eskalationen fördern würden.
Welche negativen Folgen polarisierende sowie über-dramatisierende Berichte nach sich ziehen können und weshalb eine konstruktive Berichterstattung unumgänglich sei, erklärten Prof. Dr. Margreth Lünenborg, Journalismusforscherin an der FU Berlin, sowie Prof. Dr. Maren Urner, Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der HMKW Köln.
„Neugierde auf das eigene Involviertsein“
Lünenborg wurde live zugeschaltet, um zum Thema „affect studies: Journalismus und seine Ordnung der Emotionen“ zu referieren. Wünschen würde sie sich von allen Journalist*innen, dass sie eine „Neugierde auf das eigene Involviertsein“ entwickeln, um der affektiven Dynamik in den Sozialen Medien entgegenzuwirken. Es wäre wichtig, sich gewisse „Feeling Rules“ bewusst zu machen? Wie Journalist*innen gegen ihre unbewussten Vorurteile angehen können und warum es wichtig ist, eine konstruktive Kommunikationsweise in den sozialen Netzwerken zu wählen, wurde unter anderem in den vier später angebotenen Workshops diskutiert.
Die Neuropsychologin Maren Urner widmete sich in ihrem Vortrag der Fragestellung, warum uns in den Medien mehr schlechte Nachrichten begegnen als gute: Die negative Sicht der Dinge dränge sich uns permanent auf, sobald wir uns über das Weltgeschehen informieren. Gleichzeitig sei der Grund hierfür evolutionär ableitbar. Unser Gehirn tickt bei der Wahrnehmung bestimmter Signale immer noch wie in der Steinzeit. Maren Urner warnt vor den fatalen Auswirkungen der negativen Berichterstattung – Stress, Angst und Panik würden sich immer mehr verbreiten. Wem die mediale Erregungsspirale letztendlich nützt und warum auf diesem Feld noch viel Arbeit zu leisten ist, dazu debattierten am Nachmittag die ZDF-Korrespondentin Nicole Diekmann, die Vorsitzende des Vereins Neue deutsche Medienmacher e.V. (NdM) Sheila Mysorekar, die Online-Journalistin Dr. Barbara Hans und Sigrun Rottmann.
Einen glorreichen Abschluss erfuhr die Fachtagung durch die JB-Medienpreisverleihung am Abend. Im Ruhr Museum auf dem UNESCO- Welterbe Zollverein wurden drei Kolleginnen für ihre herausragende journalistische Leistung und frauenpolitisches Engagement geehrt. Mit dem Marlies-Hesse-Nachwuchspreis wurde Anna Mayr ihren Beitrag „Damenopfer – Warum das Machtspiel Politik nach 15 Jahren Angela Merkel immer noch eine Sache der Männer ist“ (DIE ZEIT, 7.1.2021) ausgezeichnet, der Courage-Preis für aktuelle Berichterstattung ging an Chloe Fairweather für ihren Dokumentarfilm „Scheidung um jeden Preis – Türkische Frauen wehren sich“. Für ihr Lebenswerk erhält Ulrike Helwerth die Hedwig-Dohm-Urkunde des Journalistinnenbundes. Sie engagiert sich seit Jahrzehnten für Frauenrechte und Feminismus: Als Frauenredakteurin in der taz-Zentrale, als Verantwortliche der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Frauenrats und nicht zuletzt als Vorsitzende des Journalistinnenbundes.
Wer nicht mit dabei sein konnte, kann sich die Vorträge, die Podiumsdiskussion und die Preisverleihung nachträglich auf YouTube anschauen: