Tägliche Hilferufe

Die Moderatorinnen Sonia Niazi und Khatereh Ahmadi dürfen nur noch verschleiert arbeiten - hier beim Fernsehsender TOLO News in Kabul am 22. Mai 2022. Foto: picture alliance/Reuters/Ali Khara

ROG fordert mehr Engagement für afghanische Journalist*innen

Die Ukraine im Blick – da rutschen andere Kriegs- und Krisengebiete aus dem Sichtfeld. Mitte Mai schaffte es Afghanistan wieder einmal mit der Meldung in die Schlagzeilen, dass Moderatorinnen und Reporterinnen auf dem Bildschirm nur noch vollverschleiert auftreten dürfen. Wegen der dramatischen Situation für viele Medienschaffende unter den Taliban soll Deutschland mehr für verfolgte und geflüchtete Journalist*innen tun, fordert Reporter ohne Grenzen (RSF). Untermauert hat die Organisation ihren Hilferuf mit einer „Exil-Umfrage“ unter 124 Evakuierten.

„Mit jeder Stunde verschlechtert sich die Lage“, sagte Shakila Ebrahimkhil bei der Vorstellung der Umfrage. Mindestens 80 Journalist*innen seien in Gewahrsam genommen und die meisten von ihnen misshandelt worden, so die Afghanin, die zu den bekanntesten Journalistinnen des Landes gehört. Sie arbeitete bis 2016 bei Tolo TV und Tolo News. Nach ihrer Flucht ist sie seit 2018 in der Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle beschäftigt. Frauen und Mädchen hätten jede Hoffnung verloren, so ihr bitteres Fazit.

Seit der Machtübernahme der Taliban Mitte August vergangenen Jahres konnte Reporter ohne Grenzen (RSF) 150 Medienschaffende und ihre Familien nach Deutschland holen. Aber immer noch warteten viele Kolleg*innen auf Hilfe. Viele von ihnen seien in die Nachbarländer geflohen. Was manchmal nur ein schwacher Hoffnungsschimmer ist. Denn, so erzählt es auch Natalie Amiri, viele werden wieder nach Afghanistan zurückgeschickt, wenn sie kein Visum zur Weiterreise bekommen können. Die „Weltspiegel“-Moderatorin hat gerade ihr Buch „Afghanistan – Unbesiegter Verlierer“ vorgelegt. Oftmals fehlten die Dokumente, die viele nach einer überstürzten Flucht nicht mitnehmen konnten.

Von denen, die es geschafft haben, reisten die meisten über Pakistan (106), Iran (22) und Katar (8) aus. In Deutschland leben die meisten in Nordrhein-Westfalen (24), Bayern (18) sowie in Niedersachen, Schleswig-Holstein und Hamburg (je 13).

Auch Mobina Khairandish Sai hat es nach Deutschland geschafft. Sie hatte in Mazar Radio „Rabia Balkhi“ gegründet, den ersten privaten Radiosender der Region. Den leitete sie von 2003 bis 2016. Hier bot sie Frauen eine Stimme und auch eine Stelle. Danach war Sai Managerin bei der NGO Nai, die sich für freie Medien in Afghanistan einsetzt. Mit der Machtübernahme der Taliban musste sie sich verstecken. Im Oktober konnte sie nach Albanien flüchten und kam mit RSF-Hilfe nach Deutschland. Sie lebt in Wiesloch in Baden-Württemberg, besucht einen Integrationskurs und arbeitet ehrenamtlich für den afghanischen Sender Watan Radio/TV. Man habe der internationalen Gemeinschaft immer wieder erklärt, dass sich die Taliban nicht geändert hätten, konstatierte sie nüchtern. „Es ist schwer, wenn Sie 18 Jahre an einer Sache gearbeitet haben und in zwei Monaten alles zerstört wird.“

Sai gehört zu der großen Gruppe der Exil-Journalist*innen, die mehr als zehn Jahre Berufserfahrung haben. Laut RSF-Umfrage sind das 52 der 121 Antwortenden. 47 gaben an, zwischen fünf und zehn Jahren journalistisch gearbeitet zu haben. Die meisten wiederum – 68 von 123 – arbeiteten in Afghanistan im Broadcast Media/TV-Bereich, 23 beim Radio, 20 bei Zeitungen und zwölf bei digitalen Medien. 37 von 116 Befragten gaben zudem an, in leitenden Funktionen tätig gewesen zu sein. 50 waren Reporter*innen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass 122 von 124 Befragten sagten, sie wollten weiter im Journalismus arbeiten.

Täglich gehen Hilferufe ein, konstatierte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. Deutschland müsse mehr verfolgte Journalist*innen aufnehmen. Dafür sei ein Aufnahmeprogramm nötig. Nicht mal Härtefälle würden derzeit bearbeitet. Auch die Bundesländer sollten Aufnahmeprogramme auflegen, den Nachzug von Familienangehörigen ermöglichen.

RSF warnt davor, Exiljournalist*innen der verschiedenen Gebiete abzustufen. Mihr verwies auf den gerade mit der Rudolf Augstein Stiftung und der Schöpflin-Stiftung ins Leben gerufenen JX Fund hin, einem europäischen Fonds für Journalismus im Exil. Amiri sprach sich für die Übernahme von Kontingenten afghanischer Journalist*innen in deutschen Medien aus.

Was brauchen die Betroffenen noch, um hier zu arbeiten Ebrahimkhil, die wegen fehlender Papiere ein Jahr auf eine Arbeit hier warten musste, plädierte für mehr Trainingsprogramme oder unterstützenden Internetangebote. Sai erzählte von der durch die Geflüchteten aus der Ukraine noch schwieriger gewordenen Wohnungssuche. „Es kann aber nicht ein ganzes Volk ausreisen“, warnte Shakila Ebrahimkhil. Es gelte, Mechanismen des Drucks auf die Taliban für freie Berichterstattung auszuarbeiten. Zumal die um internationale Anerkennung ringen würden. In den Provinzen gäbe es praktisch keine Presse mehr.

Afghanistan rutschte auf der Rangliste von Reporter ohne Grenzen auf Platz 156 von 180 Ländern. Vor der Machtübernahme der Taliban war es Platz 122.

 

 

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