Migrant*innen in den Medien immer noch stark unterrepräsentiert
Muss Journalismus rassismuskritisch sein? – Wer den „Spiegel“ in Hamburg betritt, kann gegenüber der Eingangstür den Spruch lesen: „Sagen, was ist”. Einer der wichtigsten Grundsätze im deutschen Journalismus. Aber tun wir das immer? Es gibt doch Ingenieur*innen, Politiker*innen, People of Color. Es gibt Rassismus und Religiosität und Familien, die nicht aus Papa und Mama bestehen. Warum kommen sie alle in der Berichterstattung nur marginal vor?
Für eine Studie haben die Neuen Deutschen Medienmacher*innen 2021 gemeinsam mit Datenjournalist*innen die Abendnachrichten der drei großen Sender ARD, ZDF, RTL vor der Bundestagswahl beobachten lassen. Die Untersuchung zeigt, dass Migrant*innen immer noch stark unterrepräsentiert sind. Nur zehn Prozent der Menschen, die in den Nachrichten etwas über Deutschland zu sagen haben, werden als Migrant*innen wahrgenommen. Menschen mit Behinderungen gibt es so gut wie gar nicht und Frauen kommen nur selten in Expertenrollen vor.
Wollen wir das ändern?
Nun könnte man sagen: Warum ist der Journalismus daran schuld? Wir sind objektiv, wir sind neutral, wir berichten, was Nachrichtenwert hat. Wir fragen die, die fundierte, relevante O-Töne geben. Wir sagen, was ist.
An der Frage, ob Journalist*innen Haltung haben sollten oder ob das einer objektiven Berichterstattung grundsätzlich im Wege steht, scheiden sich derzeit die journalistischen Geister. Das Gute ist: Sie ist in diesem Fall völlig irrelevant. Rassismuskritischer Journalismus ist keine Frage der Haltung, sondern eine der Professionalität.
Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht erst seit den sozialen Medien Teil dieser Gesellschaft. Nach 60 Jahren Arbeitsmigration und 40 Jahren Fluchtmigration sind People of Color ein Teil von Deutschland. Rassismus war in all dieser Zeit öffentlich sichtbar, es wurde denen, die darüber sprachen, nur zu wenig zugehört – und geglaubt. Wie also produzieren wir rassismuskritischen Journalismus? Indem wir uns Fragen stellen. Rassismuskritischer Journalismus ist also vor allem reich an Perspektiven, arm an Klischees: Also nichts anderes als professioneller Journalismus für eine plurale Gesellschaft.
Wie berichten wir?
Debatten über politisch korrekte Sprache machen keinen Spaß mehr. Sie sind anstrengend, unversöhnlich und wir haben auf Schritt und Tritt das Gefühl, um Fettnäpfchen herumzutänzeln. Es ist unangenehm und peinlich, ein Wort zu sagen, das man nicht mehr sagen darf oder es falsch auszusprechen oder eines nicht zu kennen.
Wir spüren dann soziale Ablehnung. Und soziale Ablehnung kann sich exakt so anfühlen wie körperlicher Schmerz, hat eine Studie im „Medizinjournal für Schmerz“ vergangenes Jahr bestätigt: Beide Empfindungen nehmen nämlich dieselben Nervenbahnen.
Diskriminierungssensible Sprache darf auch gar keinen Spaß machen. Vergangenes Jahr gab es eine Debatte über die humorvolle Verwendung des Begriffs „Kartoffel“. Die Bundeszentrale für politische Bildung hatte auf Instagram einen Beitrag auf der Fotoplattform gepostet, der weiße Menschen indirekt als „Kartoffeln“ bezeichnete. Daraufhin musste sich die Behörde entschuldigen und bestimmte, wie es Behörden eben tun: Debatten über Rassismus dürfe es nur, wörtliches Zitat: „respektvoll und ohne Zwischentöne“ geben. Ohne Zwischentöne? Wie soll das gehen? Das Richtige zu sagen, scheint so schwer. Und wird es noch mehr, wenn wir uns anschauen, was für eine Verantwortung auf richtiger Sprache liegt, was falsche Sprache anrichtet.
Dabei könnte es so einfach sein. Sprache wandelt sich. Das gilt auch für Selbstbezeichnungen aus den Communitys von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen. Manche Begriffe werden so schnell wieder verworfen, wie sie entstanden sind, andere Selbstbezeichnungen finden nicht alle Betroffenen passend und wieder andere entscheiden sich fürs kleinere Übel, zum Beispiel, indem Wörter aus dem Englischen übernommen werden. Kurz gesagt: Sich auf angemessenes Wording zu einigen ist kein abgeschlossener Prozess. Und wenn wir darüber einmal nachdenken, ist das doch ganz gut so. Es bedeutet doch: Wir können alle daran mitwirken. Sprache ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft. Vergessen wir das nicht, auch wenn es auf dem Weg dahin manchmal unbequem ist.
Worüber berichten wir?
Rassismus ist eine Brille, die unseren Blick auf die Welt verzerrt. Ganz ähnlich wie Geschlecht und Herkunft. Sie sorgt dafür, dass wir weniger unvoreingenommen auf die Welt blicken. Forschende nenne das Bias. Rassismus, oder besser: Die Kategorie „Race” verzerrt also unseren Blick. Wer, wie es der Pressekodex verlangt, wahrhaft und wahrhaftig schreiben will, muss sich also gewahr sein, dass er oder sie eine solche Brille trägt. Er beinhaltet, dass man sich der eigenen Position bewusst wird und überlegt, wo die eigenen Leerstellen sind. Wer sind meine Expert*innen, wer Protagonist*innen? Wen rufe ich für eine schnelle Einschätzung an, wen mache ich zur Betroffenen? „Race” ist aber nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance. Es ist eine Geschichte. Ebenso wie Steuerhinterziehung und Kriminalität oder die Diskriminierung von Frauen ….
Große amerikanische Magazine haben längst „Race and Ethnicity“-Reporter. Deren Job ist es nicht, das Vokabular ihrer Kolleg*innen zu überwachen, oder die Leserschaft pädagogisch und mitfühlend über ihre Vorurteile aufzuklären. Emmanuel Felton von der „Washington Post“ ist ein erfahrener Investigativreporter. Er recherchiert zu Staatsversagen und Korruption, Krisen und Gewalt. Und trägt den Titel: Race and Ethnicity reporter on the America desk. Tracy Jan wurde 2016 eingestellt, um bei der „Washington Post“ einen „Race and Economy“-Beat zu bedienen. Mittlerweile ist sie Reporterin für Gesundheit und Wissenschaft. Sie recherchierte zuletzt, was passiert, wenn schwarze Gemeinden bei der Katastrophenplanung in Texas scheinbar als letzte an der Reihe sind.
Auch in Deutschland wäre „Race“ ein wichtiger „Beat”. Zum Zeitpunkt dieses Textes sind unter den zuletzt erschienenen Artikeln mit dem Schlagwort „Rassismus” erschienen: “Junger Vater setzt Zeichen gegen Rassismus” beim „Nordkurier“. Einige Artikel über eine neue Herr-der-Ringe-Serie. Die Verleihung eines Titels an eine „Schule ohne Rassismus”. Und die dpa-Meldung: “Winnetou: TV-Sender versieht Filme jetzt mit Rassismus-Warnung”. Dabei ist „Race“ eine Geschichte. Rassismus beendet Bildungskarrieren. Er macht wohnungslos. Er tötet. Die Berichterstattung in deutschen Medien zum Thema Rassismus ist angesichts dessen beinahe bösartig naiv. Sie ist unerträglich brav, träge, ambitionslos und halbherzig, kaum investigativ. Eine schöne Ausnahme ist der buten-un-binnen-Fernsehbeitrag von Radio Bremen zur „Diskriminierung bei der Wohnungssuche“ vom Team um Stella Vespermann, das den diesjährigen Stern-Preis, ehemals „Henri-Nannen-Preis“ gewann.
Wer berichtet?
Wenn weiße Reporter über rassistische Themen berichten, greifen sie oft auf traditionelle, passive Praktiken der Objektivität zurück, hat unlängst eine Studie der Midwestern University ergeben. Weiße Journalist*innen berufen sich auf offizielle Quellen und betonen ihre Distanz von den von Rassismus betroffenen Communities. Anhand von Tiefeninterviews und Fokusgruppen in Kombination mit einer Textanalyse in einer Fallstudie über eine Stadt im Mittleren Westen der USA untersuchten die Forscher*innen die ethischen Spannungen zwischen der Verpflichtung zur Neutralität und der Notwendigkeit, Vertrauen in den Communities aufzubauen.
Der Aufsatz legt nahe, dass die derzeitigen Praktiken weißer Reporter*innen möglicherweise unethisch sind, und plädiert für eine aktive Objektivität, die sich auf die Loyalität gegenüber allen Bürgerinnen und Bürger konzentriert. Reporter*innen in historisch von Weißen dominierten Gemeinschaften – zum Beispiel in Deutschland – seien von langjährigen Normen geprägt und den Anforderungen einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft nicht gewachsen, so das Resümee.
Heute haben 25 Prozent der Deutschen eine inter-nationale Geschichte. 25 Prozent haben einen Großelternteil oder einen Elternteil, der außerhalb Deutschlands geboren wurde. In der Generation nach mir sind es 40 Prozent und in manchen Großstädten sind sie schon die Mehrheit bei den unter 30-Jährigen. Nun: In deutschen Redaktionen sind es fünf Prozent. Der Rest sind weiße Deutsche.
Rassismuskritischer Journalismus beginnt also mit der Frage: Wer berichtet? Und endet mit der Frage: Für wen berichten wir? Nicht, um das Richtige zu tun. Sondern um dem gerecht zu werden, was wir zu tun behaupten: zu sagen, was ist.
Thembi Wolf
Studium der Politikwissenschaft in Berlin und Athen. Reportagen aus Ostdeutschland, Ostkongo, Südafrika und Togo. Teil des Journalistinnenkollektivs Collectext. Co-Vorsitzende der Neuen Deutschen Medienmacher*innen
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Rassismus im Journalismus mit Konstantina Vassiliou-Enz M – Der Medienpodcast:
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