30. World Congress of Science & Factual Producers in Glasgow bringt Umwelt und Ökologie im Film einmal mehr auf die Tagesordnung
„Into Nowhere. On the trail of the Black Hole chasers“ soll ein Dokumentarfilm-Format werden, für das es heute in den Häusern des öffentlich-rechtlichen Fernsehens eher wenig Verständnis – und damit auch wenig Geld – gibt: die Langzeitbeobachtung. Deshalb fuhr Produzent Martijn Schroevers ins schottische Glasgow zum World Congress of Science & Factual Producers (WCSFP), um Koproduzenten für sein Projekt zu finden. Gut zwei Jahre werden wohl allein die Dreharbeiten dauern, bis das benötigte Teleskop für die „Verfolgung des schwarzen Loches“ von Südamerika nach Afrika umgezogen ist.
Heino Falcke will ein zweites Bild machen. Das erste Foto, das er im Frühjahr 2019 publizierte, zeigte zum ersten Mal ein Schwarzes Loch. Dieses befand sich im Zentrum der Galaxie M87 und ist mit 6,5 Milliarden Sonnenmassen ein richtig dicker Brocken. Jetzt will der Professor an der Radboud Universität in Nijmegen (NL) einen kleinen Film machen, bewegte Bilder, von einem Schwarzen Loch mitten in unserer eigenen Milchstraße. Dazu braucht er ein Netzwerk von Teleskopen auf der ganzen Erde, um die Bilder zusammenzusetzen. Dieses sogenannte Event Horizon Telescope (EHT) hat quasi selbst ein schwarzes Loch, und zwar in Afrika. Das will Falcke mit einem Radioteleskop stopfen, das aufgrund seiner Leistungsfähigkeit ideal, aber zurzeit in den chilenischen Anden installiert ist. Es muss abgebaut und über den Südatlantik zu dem 2.300 m hohen Tafelberg Gamsberg in die Wüste Namibias gebracht werden.
Der Regisseur und Produzent Martijn Schroevers will die Geschichte des Umzugs des Teleskops von Südamerika in den Süden Afrikas erzählen. „Direct Cinéma“ heißt das Format in der Fachliteratur, und D. A. Pennebaker (1925 – 2019) war sein Großmeister. Alle Elemente eines spannenden Wissenschafts-Films sind in der Geschichte enthalten: Abenteuer und Technologie sowieso, Leidenschaft und „drive“ bei den Akteuren, packende Bilder vom Himmel und auf der Erde und reales Drama. So wie bei „Fitzcarraldo“ von Werner Herzog mit Klaus Kinski. Denn irgendwie muss auch das Teleskop – wie der alte Flussdampfer – über die Berge kommen.
Sechs Jahre Arbeit am Meisterwerk „The War“
Es gibt wenige Filmemacher*innen und Produzent*innen weltweit, die ein Budget zusammenbekommen, das ihnen ermöglicht, wichtige Filme zu wichtigen Themen über mehrere Jahre hinweg zu recherchieren und zu produzieren. Ken Burns ist einer dieser wenigen. Seine Filme und Serien laufen hauptsächlich beim Public Broadcasting Service (PBS), dem US-Gegenstück zu den öffentlich-rechtlichen Sendern in Europa. An seinem 14-Stunden-Meisterwerk „The War“ (2006) arbeitete Ken Burns mit seiner Ko-Regisseurin Lynn Novick über sechs Jahre, etwa 13 Mill. $ waren sein Budget. Jetzt haben Ken Burns und Lynn Novick mit Autor Geoffrey C. Ward die längst überfällige siebenstündige Miniserie „The U.S. and the Holocaust“ vorgelegt und erzählen, wie in den 1930er Jahren der Congress in einem „xenophobic backlash“ (fremdenfeindlichen Rückschlag) die Einwanderung in die USA sehr erschwert und damit vor allem Juden aus Europa die lebensrettende Einreise verweigert hatte. Die Botschaft der Serie ist eindeutig. Von den mehreren Millionen in den KZs Ermordeten hätten Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen gerettet werden können, wenn nicht Antisemitismus, Rassismus, Xenophobie und vorgebliche eugenische Erkenntnisse die Politik der USA bestimmt hätten.
Über Dokumentarfilme wie „The U.S. and the Holocaust“, „Die Nazijäger – Reise in die Finsternis“ von Hannah und Raymond Ley, produziert von Spiegel TV und die Doku-Projekte „Against all odds. Fail of Russian Blitzkrieg“ und „Mariupol“, gebaut mit Telegram-Zitaten und Zeitzeugen, des ukrainischen Produzenten Igor Storchak (Gingers Media) wurde bei der Session „Film to Phones: Evolution of the War Documentary“ in Glasgow diskutiert. „Nazijäger“, die Geschichte des Captains Anton Walter Freud, dem Enkel Siegmund Freuds, spielt in den Monaten nach der Befreiung 1945 hauptsächlich in Norddeutschland und wurde deshalb auch vom NDR koproduziert. Der verantwortliche Redakteur Marc Brasse unterstrich, die „Nazijäger“ seien „keine Geschichte aus der Vergangenheit“, dieses Dokudrama sei zeitlos. Es stehe „für die Frauen und Männer, die Kriegsverbrechen aufklären, die sich der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet fühlen. Kriegsverbrechen gab es auch nach 1945, … auch jetzt wieder in der Ukraine. Dies macht Nazijäger erschreckend gegenwärtig.“ Bernd Mütter von der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte fasste zusammen, dass die Herangehensweise an die Narration „sich mit dem zunehmenden Abstand“ ändere. „Sehr unmittelbar den Zeitzeugen zuhören“ beim Krieg in der Ukraine, „eher narrativer, reflektierter“ bei Vietnam und dem Zweiten Weltkrieg.
Wenn wir es nicht erzählen, wer dann?
Vergangenheit spielte eine wichtige Rolle beim Science-Congress. Die BBC, Hauptsponsor des Kongresses und Gastgeber einiger Sessions und Panels in den Räumlichkeiten auf der gegenüber liegenden Seite des River Clyde, wurde gerade 100 Jahre alt. Der erste Science-Congress fand 1992 in Berlin statt, also vor 30 Jahren. Und der 30. Geburtstag wurde kräftig gefeiert. Bei der Eröffnungsveranstaltung „Welcome & What’s the buzz“ spielte Geschichte ebenfalls eine herausragende Rolle, von Hitler über die Nazi-Hunters zu den Australischen Kriegen, dem Algerien-Krieg und „War-Games“ bis zu Queen Elizabeth und Präsident Selenskyj. Aber Wissenschaft muss sich natürlich um die Gegenwart und die Zukunft kümmern.
„What’s Next 2123: Can True Stories Save Humanity?“, ein Panel, moderiert von Sam Barcroft von der Denkfabrik Creatorville, versuchte zu ergründen, ob wahre Geschichten, die die Basis von Kulturen über Jahrtausende hinweg, darstellten, auch noch in 10, 50 oder sogar 100 Jahren ihre Zuhörer*innen und Zuschauer*innen finden werden. Antwort: Ja, klar, aber die Medienlandschaft, wie wir sie kennen, wird es nicht mehr geben! Das Panel „The Planet’s Dying… So what?“ fragte, wie in einem äußerst saturierten Markt die Themen Umwelt und Ökologie wieder ganz oben auf die Tagesordnung geschrieben werden könnten, mit dem Vermerk „dringlichst“ und „äußerst wichtig“. Antwort: auch das geht, muss gehen, und – so Patrick Hörl, zukünftiger Präsident des Board of Directors des WCSFP – „wenn wir, die Filme mit wissenschaftlichen Stoffen produzieren, es nicht machen, wenn wir nicht sagen und erzählen, was gemacht werden muss und was in Zukunft passieren wird, wer soll es dann tun?“
Kein Grün und keine Vögel auf dem Campus
Knapp 700 Autor*innen, Regisseur*innen, Producer und mit Budget ausgestattete Redakteurinnen und Redakteure bezahlten bis zu 1.500 € Teilnahmegebühr und kamen nach Glasgow auf den Scottish Event Campus am River Clyde. Dieser Campus war vor einem Jahr für die UN-Klimakonferenz „COP 26“ herausgeputzt und auf Vordermann gebracht worden. Er zeichnet sich dadurch aus, dass weit und breit kein einziger Baum zu sehen ist, kein Stück Grün. Ein alter Kran, der Lokomotiven heben konnte, bestimmt das Bild des Campus. Und an die Vorgängerkonferenz von Scharm asch-Schaich „COP 27“ erinnert nur noch eine Gedenktafel zwischen vier Mülleimern.
Fernsehen, Filmproduktion und Wissenschaft machen gemeinsame Sache, schauen auf Heute und Morgen, und erzählen die Geschichten, die die Zukunft bringen wird. Das ist die Grundidee des Science-Congress. Und das funktioniert am besten, wenn die übliche Tagungsdidaktik ausgetretener Kongresspfade mutig verlassen wird. „Ideas Salon: The Biggest Breakthroughs“ ist ein mutiges, modernes Tagungsformat, das dem „Stuhl des Eli“ abgeschaut wurde. Große runde Tische in einem hellen Tagungsraum bei der BBC mit freiem Blick auf den River Clyde, und immer bleibt ein Stuhl frei. Auf diesem nimmt eine junge Wissenschaftlerin/ein junger Wissenschaftler Platz, alle am Tisch stellen sich kurz und ohne überflüssige Eitelkeiten vor, und die junge Forscher*in pitcht in wenigen Minuten in freier Rede das eigene Forschungsvorhaben.
Zum Beispiel Moritz Engelhardt, Doktorand am Universitätsklinikum Erlangen: sein Forschungsthema dreht sich um den menschlichen Geruchssinn und vor allem um dessen Verlust. Etwa 7 Prozent der COVID-19-Patienten leiden noch ein Jahr nach der Infektion an einem kompletten Verlust des Geruchssinnes. Dies geht nicht selten einher mit einem enormen Einfluss auf die Lebensqualität bis hin zu schwersten Depressionen. Die neuronalen Grundlagen dieses Phänomens werden „Anosmie“ genannt. Moritz Engelhardts Forschungen sind spannend, sie haben direkt mit der Welt zu tun, in der wir nun seit drei Jahren mit einer Pandemie leben und an der – Stand 5. Dezember 2022 – 6.647.920 Menschen gestorben sind. Nach 15 Minuten Begegnung erklingt eine Glocke, und die jungen Wissenschaftler*innen tauschen die Stühle.
Wissenschaft im Film bleibt spannend
Ein kleiner Film vom Schwarzen Loch in unserer Milchstraße, ein Magazinbeitrag über die weltweite Tragik des Verlustes des Geruchssinns und wie er wieder implantiert werden könnte, die tragischen Helden von Mariupol und die Kriegsverbrechen des 21. Jahrhunderts – Wissenschaft im Film und im Fernsehen ist und bleibt spannend. Martijn Schroevers wird seinen Koproduzierten finden und Moritz Engelhardt seinen Erzähler. Der Kongress in Glasgow hat die Themen und Formate vorangetrieben. Es wäre dem Science-Congress zu wünschen, dass auch die Tagungsdidaktik sich mutig und spannender der Zukunft zuwendet. Raus aus den cleanen Tagungszentren, wo draußen weit und breit kein Baum und kein Vogel zu sehen sind, und die Natur nur in den tollen, schnell geschnittenen Bildern des Grandseigneurs des Natur- und Tierfilms, Sir David Attenborough, zu mir kommt. Die Wissenschaft der Zukunft ist nicht clean, sie riecht oft heftig und braucht Licht und Grün, Luft und Sonne.
“Nazijäger” bis 10. Januar 2023 in der ARD-Mediathek:
Doku & Reportage: Nazijäger – Reise in die Finsternis | ARD Mediathek