Nichts als die Wahrheit

Der „Rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch im Interview

Egon Erwin Kisch, auch der „Rasende Reporter“ genannt, starb am 31. März vor 60 Jahren. In der Berliner Medien Galerie wird aus diesem Anlass vom 31. März bis zum 16. Mai eine Ausstellung gezeigt, die Leben und Werk von Egon Erwin Kisch würdigt. Ergänzend zur Ausstellung werden Lesungen und Diskussionen stattfinden. Der Berliner Journalist Klaus Haupt, Kisch-Forscher und ver.di-Mitglied, hat in dem Werk des Mannes aus Prag, der die Reportage zu einem literarischen Genre gemacht hat, Antworten auf seine Fragen gefunden.

M | Herr Kisch, was sagt der „Rasende Reporter“ über die Wurzeln der Reportage mit sozialem Engagement, über Ihre Vorläufer?

EGON ERWIN KISCH | Die Reportage hat sich ihrer großen Ahnen erinnert, an Plinius den Jüngeren, der dem Chefredakteur Tacitus einen klassischen Bericht über das Erdbeben von Pompeji lieferte, an Helfrich Peter Sturz, den Freund Lessings, an George Forster, den wegen seiner Zuneigung zur Französischen Revolution verfemten deutschen Klassiker, an Charles Dickens, der eindringlich auf das Londoner Elend hinwies, an Henry M. Stanley, der von seiner Zeitung ausgesandt wurde, um den verschollenen Missionar Livingstone aufzufinden und einen ganzen Erdteil erforschte, vor allem aber an Emile Zola, der die Probleme der neuen Zeit an Ort und Stelle aufspürte und seinen Lesern das zeigte, woran sie täglich ahnungslos vorübergingen oder ahnungslos beteiligt waren, den Bahnhof, die Markthalle, den Schlächterladen, das Warenhaus, die Waschküche, die Börse, die Budike, die Kohlengrube, den Acker, die Fabrik und den Krieg, wie er wirklich ist.

M | Wie verhält es sich mit der Künstlerschaft bei der Arbeit des Reporters?

KISCH | Bei aller Künstlerschaft muss es Wahrheit, nichts als Wahrheit geben, denn der Anspruch auf wissenschaftliche, überprüfbare Wahrheit ist es, was die Arbeit des Reporters so gefährlich macht, gefährlich nicht nur für die Nutznießer der Welt, sondern auch für ihn selbst, gefährlicher als die Arbeit des Dichters, der keine Desavouierung und kein Dementi zu fürchten braucht.
Es ist schwer, die Wahrheit präzis hinzustellen, ohne Schwung und Form zu verlieren; Reportage heißt Sichtbarmachung der Arbeit und der Lebensweise – das sind oft spröde, graue Modelle in den heutigen Zeitläufen.
Wahrheit ist das edelste Rohmaterial der Kunst, Präzision ihre beste Behandlungsweise.

M | Können Sie weitere Kriterien für eine gute Reportage benennen?

KISCH | Eine Reportage darf keine Spur von Eintönigkeit aufweisen. Ein Kriterium des Künstlers unter den Reportern ist, meine ich, der Humor. Warum sollte man sich dessen schämen.

M | Haben Sie einen Tip für einen guten Anfang?

KISCH | Der erste Satz soll eine Sentenz enthalten.

M | Und wie findet der Reporter seine Stoffe?

KISCH | Die Orte und Erscheinungen, die er beschreibt, die Versuche, die er anstellt, die Geschichte, deren Zeuge er ist, und die Quellen, die er aufsucht, müssen gar nicht so fern, gar nicht so selten und gar nicht so mühselig erreichbar sein, wenn er in einer Welt, die von der Lüge unermeßlich überschwemmt ist, wenn er in einer Welt, die sich vergessen will und darum bloß auf Unwahrheit ausgeht, die Hingabe an sein Objekt hat. Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.
Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt, als die Zeit, in der man lebt!

M | Schön und gut. Aber gibt es nicht besondere Brennpunkte, spezielle Kontakte, die für den Reporter bei seinen Recherchen wichtig sind?

KISCH | Ein Reporter muss mit allen Kreisen der Gesellschaft Fühlung haben, von den allerhöchsten bis zu den allerniedrigsten. Trotzdem will ich nicht behaupten, dass ich mit manchen merkwürdigen Gestalten der Boheme und der Verbrecherwelt in der Zeit meiner Jugend nur aus journalistischem Ehrgeiz befreundet war. Viele liebte ich als prachtvolle Menschen, obwohl mancher nur zu mir kam oder mich anrief, um eine Protektion bei der Polizei zu erbitten, um bei mir zu essen oder zu schlafen – zur geringen Freude meiner Mutter.

M | Ihnen wurde gelegentlich „empfohlen“, Daten und Namen einfach zu ignorieren und ihr Werk nicht als Reportage, sondern als Novelle zu deklarieren, so dass man Sie dann literarisch beurteilen würde, als Mann von Phantasie?

KISCH | Bedarf die Gestaltung der Wahrheit keiner Phantasie? Es ist wahr, die Phantasie darf sich hier nicht entfalten, wie sie lustig ist, nur der schmale Steg zwischen Tatsache und Tatsache ist zum Tanz freigegeben.

M | Sie haben den Begriff der „logischen Phantasie“ eingeführt, weil ein guter Reporter allein mit den ermittelten Tatsachen nicht auskomme?

KISCH | Natürlich ist die Tatsache nur die Bussole seiner Fahrt, er bedarf aber auch eines Fernrohres: der „logischen Phantasie“. Denn niemals bietet sich aus der Autopsie eines Tatortes oder Schauplatzes, aus den aufgeschnappten Äußerungen der Beteiligten und Zeugen und aus den ihm dargelegten Vermutungen ein lückenloses Bild der Sachlage. Er muß die Problematik des Vorfalles, die Übergänge zu den Ergebnissen der Erhebungen selbst schaffen und nur darauf achten, dass die Linie seiner Darstellung haarscharf durch die ihm bekannten Tatsachen (die gegebenen Punkte der Strecke) führt. Das Ideal ist nun, dass diese vom Reporter gezogene Wahrscheinlichkeitskurve mit der wirklichen Verbindungslinie aller Phasen des Ereignisses zusammenfällt; erreichbar und anzustreben ist ihr harmonischer Verlauf und die Bestimmung der größtmöglichen Zahl der Durchlaufpunkte. Hier differenziert sich der Reporter von jedem anderen seiner Gattung, hier zeigt sich der Grad seiner Begabung.

M | „Logische Phantasie“ verlangt eine bestimmte Begabung, doch was nützt sie, wenn es in manchen Redaktionen oder bei gewissen Themen fest gefügte Forderungen gibt und der „freien Meinung“ Grenzen gesetzt sind?

KISCH | Heute werden Begabungen unter der selbstverständlichen Bedingung gekauft, dass sie jene Meinungen zu vertreten haben, auf welche sich der Herausgeber der Zeitung, ihre einstigen und gegenwärtigen Redakteure in allen Fragen festgelegt haben. Aus diesem Schienenstrang kann niemand heraus. Also ist schon dieser Menschenkauf unsittlich.

M | Und da gibt es keinen Ausweg?

KISCH | Die Gegner des gegenwärtigen Pressezustandes wenden sich immer bloß gegen die Zeitung als Werkzeug der Kapitalvermehrung. Das ist sie, und da die heutige Gesellschaftsform eine amorphe Masse aus Utilitarismus, Sensationslüsternheit, Interessiertheit, Kulissenkriecherei und Geilheit ist, so können der Journalist und seine Zeitung keine erfreulichere Erscheinung sein, als es sonst jemand in der Gesellschaft ist.
Aber sie sind Symptome, und Organismen werden nicht gerettet, indem man Symptome beseitigt. Mit der Kapitalisierung der Presse muss sich jeder abfinden, der sich mit der Kapitalisierung der Zeit abgefunden hat. Aber auch im Rahmen des Kapitalismus ist die Reform der Presse möglich.

M | Was hat Sie an der Arbeit des von Ihnen 1923 heraus gegebenen Buches „Klassischer Journalismus“ fasziniert, in dem 100 Meisterwerke der Zeitung aus rund 2000 Jahren versammelt sind?

KISCH | Die Geschichte gibt Auskunft… Sie ist es, die zu jedem Plädoyer ihren Urteilsspruch gefügt hat. Und das sollte eine Anthologie des klassischen Journalismus zu einem Lehrbuch der Nation machen. Zu lernen ist, dass der Geistigkeit nur durch Geistigkeit zu begegnen ist, durch kein Gerichtsurteil, kein Attentat und keine Lüge zu lernen ist, dass nicht die bessere Sache den irdischen Sieg erficht, sondern die besser verfochtene Sache. Und dass es nichts hilft, wenn man zu Lande unbesiegt ist und zu Wasser unbesiegt ist, sondern dass man den Krieg der Menschheit nur verlieren kann, wenn man im Geiste besiegt wird.

M | Durch ihr gesamtes Werk zieht sich wie ein roter Faden die Forderung, für die Wahrheit zu streiten …

KISCH | Ich glaube, einmal werden die Menschen über die Welt nichts als die Wahrheit lesen wollen.


Egon Erwin Kisch:

„Ich glaube, einmal werden die Menschen über die Welt nichts als die Wahrheit lesen wollen.“

Ausstellung und Veranstaltungen zum 60. Todestag: 1. April bis 16. Mai 2008
MedienGalerie – Dudenstraße 10 – 10965 Berlin
www.mediengalerie.org

Veranstalter: Förderverein MedienGalerie Berlin e.V., Jüdisches Museum Wien, publik, ver.di Berlin-Brandenburg Fachbereich Medien, Kunst und Industrie, Deutsche Journalistinnen und Journalisten-Union (dju) Berlin-Brandenburg und Bund, Verband Deutscher Schriftsteller (VS) Berlin-Brandenburg und Bund: Gefördert von: Gruner+Jahr (angefragt), Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt

31. März 2008 18.00 Uhr
Ausstellungseröffnung
Begrüßung: Regine Möbius, ver.di

Es sprechen:
Marcus Patka, Jüdisches Museum Wien: Die Aktualität von Egon Erwin Kisch
Dr. Peter Sandmeyer, Stern:
Der Egon Erwin Kisch-Preis

Kisch-Texte lesen die Absolventen der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Simon Zagermann und Nikolai Plath
Musik: Lutz Fußangel

3. April
Lesung

Egon Erwin Kisch – Briefe an Jarmila
Aus Berlin und aller Welt
Mit Carmen-Maja Antoni,
Jennipher Antoni
und Klaus Haupt

10. April
Diskussionsveranstaltung

Googeln statt Recherche?
Journalismus heute in der Verantwortung
Kisch-Texte lesen Simon Zagermann
und Charlotte Wiedemann (angefragt)
Moderation: Thilo Schmidt

17. April Lesung
Porträts u.a. preisgekrönte Texte
Alexander Osang, Journalist, dreifacher Kisch-Preisträger, liest aus seinen Reportagen
Musik: Lutz Fußangel

24. April
Diskussionsveranstaltung

Ihr da oben – wir da unten!
Journalismus heute in der Verantwortung
Vera Gaserow, Fankfurter Rundschau
Walter van Rossum, Rundfunkjournalist
Moderation: Maria Kniesburges, publik
Szenische Lesung mit Susanne Häusler, Simon Zagermann und Nikolai Plath

30. April
Lesung und Kulturprogramm

„Schwer ist eure Arbeit, mein Freund.“
Reportagen aus der Arbeitswelt
Kisch-Texte lesen Hans Teuscher, Schauspieler und Henning Sußebach, Kisch-Preisträger 2007
Musik: Joe Kucera, Saxophon und Partner

8. Mai
Diskussionsveranstaltung

Krieg und Frieden – Embedded for ever?
Journalismus heute in der Verantwortung
Eckart Spoo, Ossietzky – Thomas Grabka, Fotograf
Moderation: Manfred Protze, dju
Kisch-Texte liest Simona Zagermann

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