Im vergangenen Jahr ist die Anzahl der dokumentierten Angriffe gegen Journalist*innen in Deutschland von 80 (2021) auf insgesamt 103 (2022) gestiegen. Am gefährlichsten ging es für Medienschaffende dabei auf Demonstrationen zu. So berichtet „Reporter ohne Grenzen“ in der „Nahaufnahme Deutschland“. Aber auch in der Online-Welt erfahren Journalist*innen Hass. Besonders weibliche Kolleginnen sind von digitaler Gewalt betroffen. Anlässlich des „internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ am 25. November rücken wir Erfahrungen von Journalistinnen in den Fokus.
Journalist*innen erfahren digitale Gewalt in den Kommentarspalten ihrer Online-Artikel, auf ihren Social-Media-Accounts oder auch in Direktnachrichten. Unter digitaler Gewalt und Hassrede versteht man Beleidigungen, Bedrohungen, Rassismus, Antisemitismus, Cyberstalking oder Cybermobbing – und das sind nur wenige Beispiele der Straftaten im Netz.
Betroffene sind durch den Hass, der von den Täter*innen ausgeht, meist enorm belastet. „Psychologische Auswirkungen wie eine Minderung des Selbstwertgefühls, Depressionen oder Schlafstörungen können die Folge von digitaler Gewalt sein. Das haben sogar Studien gezeigt“, sagt Omid Rezaee, freier Journalist und Projektmitarbeiter beim „No Hate Speech Movement“ der „Neuen deutschen Medienmacher*innen“. Seit 2016 engagieren sich die „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ in Form von Kampagnen und Publikationen gegen digitale Gewalt. Ihr Anliegen ist es, Medienschaffende, Redaktionen und Politik über digitale Gewalt aufzuklären und für die Unterstützungsmöglichkeiten von Betroffenen zu sensibilisieren.
Pressefreiheit in Gefahr
Betroffene sollten digitale Gewalt nicht einfach ignorieren. Werden Medienschaffende online mit Hass konfrontiert, steht nicht nur die Gesundheit des Einzelnen auf dem Spiel. Digitale Gewalt gefährdet die Pressefreiheit und die Stabilität der freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft. Diese Auffassung teilt auch Omid Rezaee. „Ich kenne Kolleg*innen, die zu bestimmten Themen nicht mehr arbeiten, weil sie den Hass, der ihnen entgegenschlägt, nicht aushalten. Hasskampagnen im Netz machen Menschen mundtot und drängen ihre Stimme aus dem digitalen Raum. Die Pressefreiheit steht dabei auf dem Spiel.“
Auch Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation „Hate Aid“, sieht die Pressefreiheit durch digitale Gewalt in Gefahr. Zusammen mit ihren 45 Mitarbeiter*innen setzt sie sich deshalb seit 2018 für Menschenrechte im digitalen Raum ein und berät Betroffene. „Medienschaffende stehen repräsentativ für die freie Presse und für kritische Berichterstattung. Vielleicht ist man zusätzlich noch eine Person of Color oder Jüdin oder hat sich in Form eines Beitrags zu Corona geäußert. Bei digitaler Gewalt geht es nicht um einen selber als Person, sondern um eine Projektionsfläche, zu der man als Journalist plötzlich wird, ein Feindbild, das die Menschen in ihren Köpfen haben.“
Geschlechterspezifische Unterschiede
Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer digitaler Gewalt zu werden, nicht für jeden Menschen gleich. Anna-Lena von Hodenberg zufolge sind vor allem Politiker*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen, und marginalisierte Gruppen von digitaler Gewalt betroffen. „Zu marginalisierten Gruppen zähle ich übrigens auch Frauen und alle Menschen, die von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit betroffen sind.“
Aber auch die Form, in welcher sich der Hass im digitalen Raum äußert, ist keine Frage des Zufalls, sondern steht im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Opfers. Anna-Lena von Hodenbergs Erfahrungen im Austausch mit Betroffenen haben gezeigt: „Frauen sind immer ganz anders von digitaler Gewalt betroffen als Männer.“
Auffällig bei den Hassangriffen auf Frauen sei, dass Täter*innen vor allem die Optik der Frau, sprich ihr Aussehen, abwerten. Häufig komme es außerdem vor, dass Täter*innen Frauen Kompetenz sowie geistige Fähigkeiten absprechen. Geläufige Kommentare der Täter*innen würden etwa lauten: „Die ist doch dumm“, „Die soll mal lieber wieder putzen gehen“ oder „Die ist doch nicht kompetent genug“. Bei Männern sehe man das laut von Hodenberg so nicht.
Hassrede gegen Frauen stets mit sexualisierender Komponente
Darüber hinaus enthielten die Hassnachrichten an Frauen auch stets eine sexualisierende Komponente: „Es sind immer sexualisierte Beleidigungen wie zum Beispiel Genitalverstümmlungs- oder sadomasochistische Phantasien und Vergewaltigungsandrohungen, die Frauen erreichen.“ Männer hingegen würden eher Morddrohungen oder Gewaltandrohungen erhalten. „Während bei Hassnachrichten an Frauen gleich noch eine gewaltsame Sexphantasie mit dazukommt“, erläutert die Hate Aid Geschäftsführerin.
Auch Omid Rezaee vom „No Hate Speech Movement“ teilt diese Erfahrung: „In den patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft ist es viel einfacher, einer Frau ihre Kompetenz abzusprechen als einem Mann. Digitale Gewalt gegen Nicht-Cis-Männer ist insgesamt einfacher, weit verbreiteter und leider irgendwie auch „normaler“.“
Diese Geschlechter-Spezifika in Bezug auf digitale Gewalt lassen sich auch geschichtlich einordnen. „In den vergangenen 100 Jahren haben sich Frauen neue Rechte erkämpft“, erklärt Anna-Lena von Hodenberg. „Heutzutage befinden sich Moderatorinnen und Frauen in exponierten Positionen, verhandeln harte Themen.“ Trotzdem gebe es im Verhältnis immer noch weniger Frauen in Spitzenpositionen im Journalismus. „Mit digitaler Gewalt wird über die Hintertür versucht, diese wenigen Frauen, die gerade erst Sichtbarkeit erlangt haben, wieder wegzudrängen. Und zwar indem sie so lange massiv unter Druck gesetzt werden, bis sie sagen: „Ok, ich kann nicht mehr“.“
Für Betroffene von digitaler Gewalt gibt es unterschiedliche Unterstützungsmöglichkeiten.
- Beratung und rechtliche Unterstützung finden sie bei „Hate Aid“.
- Auch auf dem „Online Helpdesk gegen Hass im Netz“ der „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ gibt’s Tipps und Unterstützung.
- Genauso wie im „Leitfaden gegen Hassrede – Wetterfest durch den Shitstorm“, herausgegeben von den „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ und dem „No Hate Speech Movement“.
- Auch die „dju“ bietet in Kooperation mit „Reporter ohne Grenzen“, den „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ und dem „Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ einen Schutzkodex an. Dieser umfasst Standards für Medienhäuser im Umgang mit digitaler Gewalt sowie konkrete Schutzmaßnahmen zur Unterstützung von Journalist*innen.
Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen: dju in ver.di fordert mehr Schutz für Frauen in den Medien
Bundesvorstandsmitglied Renate Gensch appelliert an betroffene Frauen, Übergriffe jeglicher Art zu melden – eine Pressemitteilung der dju in ver.di vom 24.11. 2023