Buchtipp: Ausbildung mit „blinden Flecken“

Cover

Wirtschaftspolitische Berichte spielen eine Schlüsselrolle in den meisten gesellschaftlichen Diskussionen, erklärt Valentin Sagvosdkin in der Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur Ausbildung von Wirtschaftsjournalist*innen. Doch mangele es an Pluralität, wichtige Themen wie „Gerechtigkeitsdebatten“ würden kaum aufgegriffen, denn eine einseitige Fokussierung auf neoliberale Wirtschaftstheorien werde schon in der Ausbildung vermittelt. Diese „blinden Flecken“ im Wirtschaftsjournalismus seien spätestens seit der Finanzkrise 2008 offenkundig.

Der Autor Valentin Sagvosdkin von der Cusanus-Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Bernkastel-Kues – Leitbild „Wirtschaft ist umdenkbar“ – bezeichnet sich selbst als „pluralen Ökonomen“. Er hat neben den grundlegenden Lehrbüchern auch mehr als 300 Lehrveranstaltungen aus neun Hochschulen ausgewertet, die er als Ausbildungsstätten späterer Wirtschaftsjournalist*innen für besonders wichtig hält. Eine davon ist die Universität zu Köln, da es hier eine enge Zusammenarbeit mit der Kölner Journalistenschule gibt, deren Absolvent*innen nach Sagvosdkins Statistik stark in einflussreichen Medien des Wirtschaftsjournalismus wie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vertreten sind.

Nach Sagvosdkins Auswertung bieten die untersuchten Lehrveranstaltungen der Volkswirtschaft immer noch zu 80 Prozent eine Darstellung aus der Perspektive des „wirtschaftsliberalen Dogmas“. Weniger als 20 Prozent der Ausbildung machen Ideen- und Wirtschaftsgeschichte sowie vom Mainstream abweichende wirtschaftliche Betrachtungsweisen aus. Dies wirke sich bei den Absolvent*innen im Berufsleben bei der Wahl der befragten Experten in wirtschaftspolitischer Berichterstattung aus: Es gebe eine „starke Fokussierung auf prominente männliche Persönlichkeiten“, ohne dass deren wirtschaftstheoretische Hintergründe betrachtet oder kritisiert würden. Bereits frühere Studien zum Wirtschaftsjournalismus hatten diese „klare Dominanz der Unternehmensseite“ konstatiert, erläutert der Autor.

Die einseitige Ausbildung sei auch innerhalb des Fachs ein Thema, so Sagvosdkin: Studentische Initiativen wie das „Netzwerk Plurale Ökonomik“ oder die „International Student Initiative for Pluralism in Economics“ kämpfen ebenso für mehr Vielfalt in der Ausbildung der Studierenden wie die „Economics für Future“. Sie stellen fest, die derzeit Studierenden „werden daran gehindert, reale wirtschaftliche Probleme verstehen und bewältigen zu lernen“.

Bei den untersuchten Studiengängen kamen die Kölner als relativ weitgefächert in den vermittelten Perspektiven im Ranking nach vorne hinsichtlich einer Vermittlung pluraler ökonomischer Ansätze – quasi ein langsam wirkendes Versprechen auf mehr Vielfalt in der ökonomischen Berichterstattung. Der Spitzenreiter in Sachen Vielseitigkeit, die Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft, hat ihren in der OBS-Studie besprochenen Berliner Master-Studiengang „Konvergenter Journalismus“, der „die besondere gesellschaftliche Bedeutung des Wirtschaftsjournalismus“ hervorgehob, inzwischen eingestellt zugunsten des Master-Studiengangs „Digitaler Journalismus“. Geändert habe sich nur die stärkere Betonung des Digitalen, heißt es aus der Hochschule.

Die Studie kann hier kostenfrei bestellt oder heruntergeladen werden.


Valentin Sagvosdkin: Qualifiziert für die Zukunft? Zur Pluralität der wirtschaftsjournalistischen Ausbildung in Deutschland. Otto-Brenner-Stiftung Arbeitsheft 104. Frankfurt/Main 2021. 120 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Tabellen

 

Weitere aktuelle Beiträge

Proteste bei TiKTok in Berlin

Rund 150 Beschäftigten der Trust and Safety-Abteilung (Content-Moderation) von TiKTok und einem Teil der Beschäftigten aus dem Bereich TikTok-Live (rund 15 Beschäftigte) in Berlin droht die Kündigung. Das  chinesische Unternehmen plant die Content-Moderation künftig verstärkt durch Large-Language-Models (Künstliche Intelligenz) ausführen zu lassen und die Arbeit an andere Dienstleister auszulagern. Dagegen protestierten heute vor der TikTok-Zentrale in Berlin Beschäftigte und Unterstützer*innen.
mehr »

Drei Fragen zum Streik der SZ

In den beiden Wochen vor der zehnten Tarifrunde mit dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) am 18. Juli erhöht die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) mit den Redakteur*innen in den Zeitungsredaktionen bundesweit den Streikdruck. Besonders im Süden der Republik kommt es zu mehrtägigen, spürbaren Streiks. Auch bei der Süddeutschen Zeitung (SZ) wird seit gestern wieder gestreikt. Wir sprachen mit Ertunç Eren, ver.di-Fachsekretär Medien, Bezirk im München.
mehr »

Der Clickbait mit den miesen Botschaften

„Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler“, nach diesem Motto bewertete einst Helmut Thoma, der kürzlich verstorbene ehemalige RTL-Chef, den Erfolg von Programmformaten. Dieses für private Sender typische Prinzip findet inzwischen seine Fortsetzung in immer mehr digitalen Nachrichtenportalen. Das untermauert eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin nach der Auswertung von 40 Millionen Schlagzeilen.
mehr »

Halbzeit bei der UEFA Frauen-EM

UEFA-Women’s Euro 2025 heißt das Turnier nach dem Willen des Europäischen Fußballverbands. Bei den Männern wird auf die geschlechtsspezifische Eingrenzung verzichtet. Möglichweise ein Relikt aus den Zeiten, als das Kicken selbstverständlich eine maskuline Sportart war, vermeintlich ungeeignet für die „zarte Weiblichkeit“. 
mehr »