Öffentlichkeitsfahndungen mit Hilfe der Medien sind eigentlich nur bei erheblichen Straftaten erlaubt. Trotzdem greifen Strafermittler auch bei Tankbetrug, Ladendiebstahl oder Rezeptfälschung zu diesem einschneidenden Mittel. Manchmal werden auch völlig Unschuldige an den Fotopranger gestellt. Die Medien veröffentlichen die Fahndungsfotos in aller Regel ungeprüft. Nach Ansicht der dju sollten die Redaktionen aber die Verhältnismäßigkeit hinterfragen.
„Ohne Skrupel und Gewissen: Polizei sucht diesen Geldbörsen-Dieb!“ So überschrieb das Boulevard-Newsportal „tag24.de“ einen Fahndungsaufruf, mit dem sich die Magdeburger Polizei im Februar an die Öffentlichkeit gewandt hatte. Fotos einer Überwachungskamera zeigten angeblich einen Mann beim Entwenden einer versehentlich zurückgelassenen Geldbörse in einem Supermarkt. Doch kurz danach stellte sich heraus: Der Abgebildete war alles andere als ein Dieb, sondern vielmehr der ehrliche Finder des liegengelassenen Portemonnaies. Die Polizei entschuldigte sich bei ihm, und auch das Newsportal berichtete über den Irrtum der Ermittler. Aber wer weiß, ob diese Korrektur auch alle Leser*innen der Erstmeldung erreicht hat?
Ladendiebe, Tankbetrüger, Unschuldige
Der Fall aus Magdeburg ist nicht nur ein Extrembeispiel dafür, dass durch Öffentlichkeitsfahndungen (ÖF) gelegentlich völlig Unschuldige ins Visier geraten können, sondern zeigt auch, aus welchen eher geringfügigen Anlässen deutsche Strafverfolger*innen Fahndungsfotos ins Internet stellen und über die PR-Plattform „presseportal.de“ an die Medien geben. Eher selten geht es um Kapitalverbrechen oder Gewalttaten, sondern oft um Einbrüche (auch ohne Beute), Geldwäsche, Kontoeröffnung mit falschem Ausweis, Laden- oder Taschendiebstähle. Gerne fahnden Polizeidienststellen auch nach Tankbetrügern, die ohne zu zahlen davongebraust sind, oder nach den Dieben von Autonummernschildern.
Immer wieder sucht die Bundespolizei per ÖF nach Unbekannten, die in Zügen unbemerkt Smartphones gestohlen haben. Der Kreispolizeibehörde Unna reichte es 2024 als Fahndungsanlass schon, dass ein Mann in einer Apotheke versucht hatte, ein gefälschtes Rezept einzulösen. Bereits 2020 fahndete die Polizei nach einem Gaffer, der die Opfer eines schweren Busunfalls in Wiesbaden gefilmt und das Video im Internet veröffentlicht haben soll. Daraufhin stellte sich der Gesuchte. Er war erst 17 Jahre alt.
Öffentlichkeitsfahndung nur bei „erheblicher Bedeutung“
Dabei dürfen Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften eigentlich nur unter strengen Bedingungen eine ÖF starten: Laut § 131b Strafprozessordnung (StPO) muss eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ vorliegen. Was das heißt? Das Bundesverfassungsgericht hält eine Straftat dann für erheblich, „wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen“ (Az.:2 BvR 298/12). Außerdem muss laut StPO die Aufklärung des Falles „auf andere Weise erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert“ sein.
Zusätzlich muss bei der ÖF auch die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt werden. Das war dem Gesetzgeber besonders wichtig, als er im Jahr 2000 diese Fahndungsmethode genauer in der StPO regulierte (vorher war dort nur die „steckbriefliche Verfolgung“ geregelt). Der Rechtsausschuss des Bundestags betonte damals: „Die Maßnahme ‚Öffentlichkeitsfahndung‘ ist im Hinblick auf die sozialen und gesellschaftlichen Folgen für den Betroffenen von besonders hoher Eingriffsintensität. Ein Beschuldigter, der mit Hilfe öffentlicher Medien mit dem Ziel der Festnahme gesucht wird, wird vor der Allgemeinheit und seinem persönlichem Umfeld zwangsläufig bloßgestellt. (…) Angesichts der Eingriffsintensität und Breitenwirkung einer Öffentlichkeitsfahndung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel besonders zu beachten. Es ist daher in jedem Einzelfall zu prüfen, welches Fahndungsmittel im Hinblick auf die mit ihm verbundene öffentliche Wirkung angemessen ist.“ (Drs. 14/2595)
Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend geprüft
Ferner müssen die Strafverfolger eine richterliche Genehmigung einholen. Das aber scheint oft reine Formsache zu sein. Justizsprecher versichern zwar, dass jeder Einzelfall unter Anwendung der gesetzlichen Regelungen und nach Prüfung der Verhältnismäßigkeit entschieden werde. Aber Recherchen für „Legal Tribune Online“ haben gezeigt, dass zumindest bei fünf ausgewählten Beispielen die zuständigen Amtsgerichte die nötige Erheblichkeit der Staftat ohne genauere Begründung einfach nur postuliert haben. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel bejahten die Gerichte in jeweils nur einem Satz und nannten als Begründung dafür die Höhe der zu erwartenden Strafe. Eine Abwägung mit den Folgen einer Fotoveröffentlichung für die Verdächtigen und ihr Umfeld sucht man in den vorliegenden Gerichtsbeschlüssen vergeblich.
Der linksliberale Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) kritisiert denn auch, „dass die ÖF auf immer mehr Deliktbereiche ausgeweitet wurde, die kaum noch als Straftaten ‚von erheblicher Bedeutung‘ (§ 131b StPO) gewertet werden können“. Außerdem, so der Bremer Strafverteidiger und Honorarprofessor Helmut Pollähne im Namen des RAV, werde oft nicht bedacht, dass selbst bei erheblichen Straftaten zusätzlich immer die Verhältnismäßigkeit zu prüfen sei.
Gedankenlose Weiterverbreitung
Trotz dieser ausgeuferten Praxis gehört es bei Lokalzeitungen und Onlineportalen zur Routine, Fahndungsaufrufe samt Fotos gedankenlos weiterzuverbreiten. Dabei verlassen sich die Redaktionen darauf, dass Behörden als privilegierte Quellen gelten, so dass ihre Pressemitteilungen angeblich nicht überprüft werden müssen. Peter Freitag, einer der Vorsitzenden des dju-Bundesvorstands, mahnt hingegen: Journalist*innen sollten sich nicht darauf verlassen, „dass Polizei und Staatsanwaltschaften als privilegierte Quellen nur rechtmäßige Fahndungsaufrufe verbreiten“. Als Redakteur in einer Lokalredaktion erlebe er „in den vergangenen Jahren tatsächlich immer häufiger, dass auch nach Straftaten, die ich selber tendenziell dem Bereich der Bagatellkriminalität zuordnen würde, mit Fotos nach den mutmaßlichen Täterinnen und Tätern gefahndet wird“.
Freitag räumt zwar ein, dass Redaktionen bei gerichtlich genehmigten Fahndungen „in der Regel keine fundierte eigene Prüfung der Rechtmäßigkeit“ vornehmen könnten. Aber vor einer möglichen Veröffentlichung könnten sie „hinterfragen, ob beispielsweise nach einem Ladendiebstahl eine solche Fotofahndung wirklich verhältnismäßig ist“. Letztlich gehe es auch darum, „die Relevanz einer solchen Berichterstattung von Fall zu Fall zu bewerten“.
Pressekodex nicht genügend beachtet
Im Pressekodex des Deutschen Presserats werden Öffentlichkeitsfahndungen nicht ausdrücklich erwähnt. Peter Freitag verweist aber auf eine vergleichbare Regelung, nämlich zur Nennung der Herkunft von Tätern oder Tatverdächtigen in Polizeimeldungen. Solche Angaben werden nach Freitags Eindruck „häufig unkritisch im bequemen Copy-and-Paste-Verfahren aus der Pressemitteilung der Polizei übernommen, obwohl der Pressekodex die Herkunftsnennung an enge Relevanzbedingungen knüpft“. In den Praxis-Leitsätzen zur entsprechenden Pressekodex-Richtlinie 12.1 heißt es unter anderem: „Die Nennung der Zugehörigkeit durch andere Quellen, z. B. durch Behörden oder Polizei entbindet nicht von der redaktionellen presseethischen Verantwortung.“ Diese Regelung lässt sich laut Freitag sinngemäß auch auf das Thema Öffentlichkeitsfahndung übertragen.
Polizei und KI als Quellen hinterfragen
Dass Redaktionen Polizeimeldungen trotzdem unkritisch übernehmen, liegt nach Ansicht des dju-Vorsitzenden möglicherweise auch am anhaltenden Personalabbau. „Zusammengesparte Redaktionen haben oft kaum Kapazitäten, Pressemitteilungen der Polizei gegenzurecherchieren. Die verbreitete Auffassung bzw. presserechtliche Sichtweise, die Polizei sei eine privilegierte Quelle, macht es dann vordergründig einfacher, auf eine solche Gegenrecherche zu verzichten.“
„Eine erhebliche Gefahr“ sieht Freitag hier beim Einsatz Künstlicher Intelligenz: „Verfechter eines solchen Einsatzes argumentieren, dass das Schreiben von Polizeimeldungen eine lästige Routineaufgabe sei, die die Technik Journalist*innen abnehmen könne. Generative KI ist aber weder in der Lage, die Relevanz von Informationen zu prüfen, noch die Verhältnismäßigkeit der Veröffentlichung eines Fahndungsaufrufs. Das können nur Menschen.“
Wie sorgsam das Mittel der ÖF eingesetzt werden sollte, zeigt nicht nur der Fall des ehrlichen Finders aus Magdeburg. Auch ohne einen solchen Polizei-Irrtum können Unschuldige versehentlich in Verdacht geraten, nämlich dann, wenn sie so ähnlich aussehen wie die teils nur schemenhaft abgebildeten Personen auf Fahndungsfotos oder Phantomzeichnungen. In Bremen zum Beispiel suchte die Polizei (und mit ihr die Lokalpresse) im Herbst 2024 nach zwei Einbrecherinnen. Eine von ihnen sah aus wie eine Bremer Laienschauspielerin. Nur wer sie kennt, weiß, dass sie über jeden Verdacht erhaben ist. Nach Ansicht der Bremer Datenschutzbehörde müssen die Strafverfolger eine solche Verwechselungsgefahr „im Rahmen der Interessensabwägung zwingend berücksichtigen“. Hinzuzufügen wäre: Auch die Redaktionen sollten sich solcher Gefahren bewusst sein und nicht blindlings alles aufgreifen, was die Polizei verbreitet.